Die Nachrichten des Herbstes: Die Autoindustrie brummt, besonders in derLuxusklasse. Der Export läuft, dem schwachen Euro sei Dank, auf Hochtouren. Der Wirtschaftsminister verkündet »Aufschwung XL«. Aber es gibt auch andere Rekorde, traurige: Das Jahr ist das heißeste, seit Temperaturen aufgezeichnet werden, in Pakistan ertrinken die Leute, in Chile sind sie erfroren, Russland und die Ukraine brannten, und zwar so, dass Industrieanlagen gefährdet waren und rund um Tschernobyl wieder Radioaktivität freigesetzt wurde. Die Klimaforschung nennt das »Extremwetterereignisse«, aber bislang haben die Leute gedacht, die kommen erst 2050. Sie sind aber schon da.
Wie ungünstig, dass wir, nach dem kürzlich abgeschlossenen Treffen von 2500 Klimaunterhändlern in Bonn, jetzt schon wissen, dass der nächste Klimagipfel in Cancún scheitern wird. Wahrscheinlich fliegen die Experten alle trotzdem hin; das ist ja ihr Job. Und die deutsche Politik? Diskutiert über verlängerte AKW-Laufzeiten. Was dieses Gesamtkunstwerk aus Ökonomie, Umweltdesastern und absichtlich scheiternder Politik zeigt, ist das Ende eines 250 Jahre lang extrem erfolgreichen Lebens- und Wirtschaftsmodells, das unter alten Bedingungen ganz prächtig funktioniert hat. Nun gibt es neue. Und hier beginnt unser Problem.
Zivilisationsmaschine auf Pump
Die alten Bedingungen, das war die Verfügbarkeit eines ganzen Planeten für einen kleinen Teil der Menschheit und seine Wirtschaftsform. Mithilfe von Ressourcen aus aller Welt konnten die Industriestaaten eine fantastische Zivilisationsmaschine betreiben: eine Maschine, die mit fossilen Energien läuft und Gesundheits- und Versorgungssysteme, sozialen Frieden, Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Rechtsstaatlichkeit hervorbringt. Dass diese Maschine unser Klimasystem aus dem Gleichgewicht bringen würde, konnte niemand ahnen. Etwas anderes schon: Diese Form des Wirtschaftens, das immer ein Außen braucht, aus dem es Ressourcen bezieht, implodiert in dem Augenblick, in dem sie sich globalisiert.
Die globalisierte Welt, die dem Prinzip der grenzenlosen Ressourcennutzung folgt, hat kein Außen, aus dem sie den nötigen Treibstoff beziehen könnte. Deshalb wächst nicht nur die internationale Konkurrenz um die Rohstoffe und ihre Transportwege, deshalb wird nicht nur tiefer und gefährlicher nach Öl gebohrt, deshalb verlagert sich auch die Ausbeutung des Planeten zunehmend vom Raum in die Zeit.
Es ist die Zukunft derjenigen, die heute Kinder oder Jugendliche sind oder noch gar nicht geboren, an der Raubbau betrieben wird. Die Gegenwart konsumiert die Zukunft, und das wird an der Staatsverschuldung ebenso deutlich wie an der Verwahrlosung mancher Schulen und Universitäten und an der unablässigen Kreditaufnahme bei der Umwelt. Dazu zählt die Überfischung der Meere genauso wie die Überladung der Atmosphäre mit CO2 oder die Überdüngung der Böden: Für alle diese Kredite haben nicht wir heute geradezustehen, sondern die, denen morgen die Reste übrig bleiben.
Die Fiktion vom ewigen Wachstum
Die Herrschaft der Gegenwart über die Zukunft ist dieser Wirtschaftsform eigen. Es ist also falsch, wenn immer wieder gesagt wird, an den Börsen werde Zukunft gehandelt. Nicht erst, seit dort das meiste in den Sekundenbruchteilen des Computerhandels erledigt wird, gilt das Prinzip der kurzfristigen Gewinnmaximierung, das den Zukunftshorizont der Quartalsberichte selten überschreitet. Denn das Kernprinzip dieser Art von ökonomischer Vernunft besteht darin, zum Erzielen kurzfristigen Nutzens langfristige Schäden in Kauf zu nehmen. Mit der zynischen Pointe, unter Nutzung der gegenwärtigen Gewinnchancen so viel zu erwirtschaften, dass die Beseitigung der leider unvermeidlichen Schäden finanziert werden kann.
Wie das in der Wirklichkeit aussieht, lässt sich gerade am Fall BP studieren. Klar ist: Die Zukunft gerät bei dieser Form des Wirtschaftens automatisch unter das Diktat der Gegenwart. Das fiel so lange nicht auf, wie die Welt noch nicht das Stadium der Ressourcenübernutzung erreicht hatte, sondern ein scheinbar unendlicher Planet zur Verfügung stand, um die in jeder Hinsicht kostspielige westliche Lebensform und ihre Glücksversprechen zu speisen.
Jetzt tritt etwas Unerwartetes auf den Plan, und das heißt Endlichkeit. Endlichkeit ist einer Kultur, die von der Fiktion unendlichen Wachstums besessen ist, unheimlich und fremd. So sehr, dass sie alle Energie darauf verwendet, die Fiktion eines Status quo zu schaffen, in dem die Gesetze der Zeit gelten, als alles noch funktioniert hat. Diese Gesetze hießen: Wachstum schafft Wohlstand, Bildung erlaubt Aufstieg, von allem gibt es für alle mehr, die Zukunft ist besser als die Gegenwart. Heute müssen sich gerade die frühindustrialisierten Länder wie Deutschland mit dem befremdlichen Gedanken anfreunden, dass ihre Zukunft vermutlich schlechter sein wird als die Gegenwart, weshalb die anderen Gesetze plötzlich auch alle nicht mehr gelten.
Das politische Illusionstheater
Also konzentrieren sich die Eliten, die einen großen Teil ihrer persönlichen Zukunft schon hinter sich haben, darauf, die Gegenwart zu okkupieren. Frank Schirrmacher hatte recht mit seinem Vorwurf an die Politik, sie habe die Wählerstimmen einer alternden Gesellschaft im Blick, wenn sie zum Beispiel an der Bildung sparen will, weil die Älteren für solche Zukunftsinvestitionen nicht mehr zu gewinnen sind. Aus dieser Ausbeutung der Gegenwart auf Kosten der Zukunft resultiert das große Illusionstheater, das die Politik gerade vorführt: Das pausenlose Aufspannen irgendwelcher »Rettungsschirme« unter dem Scheinargument der »Alternativlosigkeit« bestand ja in nichts anderem als in der Erfindung von Geld zur Simulation eines funktionierenden Betriebs.
Niemand spricht davon, dass die obskuren dreistelligen Milliardenbeträge, die die fallenden Dominosteine der überschuldeten Staaten aufhalten sollen, Einschränkungen der Zukunftsspielräume derjenigen bedeuten, die demokratisch gar nicht repräsentiert sind und nicht wählen dürfen. Übrigens sind es ja ausgerechnet die Finanzmärkte, die als Einzige das politische Illusionstheater ignorieren und ganz unbekümmert den Euro fallen oder steigen und die Fantasielosigkeit der Politik wachsen lassen: Von der gibt es dann die magische Veranstaltung eines »Wachstumsbeschleunigungsgesetzes« – magisch deshalb, weil man glaubt, dass alles wieder gut wird, wenn man wie Guido Westerwelle nur oft genug dieselben rituellen Formeln spricht. Aber dieses »Alles wieder gut« hat einen Zeitkern, und der liegt in der Wirtschaftswunderwelt der Nachkriegszeit und reicht bis in die frühen Neunzigerjahre, wo zur wirtschaftlichen auch noch die nationale Identität in der Berliner Republik zu sich selbst fand. Es war nur ein Glück auf Zeit.
»Was kümmert mich die Nachwelt? Hat sich die Nachwelt je um mich gekümmert?«
Die fixe Idee vom Wirtschaftswunderland
Der Soziologe Norbert Elias hat in seinen Studien über die Deutschen den bemerkenswerten Gedanken entwickelt, dass Gesellschaften dazu neigen, jenes Selbstbild zu konservieren, das sie in ihrer besten Zeit entwickelt haben: So bleibt ein Bestandteil des nationalen Habitus der Niederländer, dass sie mal eine bedeutende See- und Handelsmacht waren, oder der Italiener, dass sie mal in der europäischen Kunst führend waren. Die Bundesrepublik imaginiert sich am liebsten als das technoide Wirtschaftswunderland, das sie einmal war. Man möchte sich zurückträumen in die von Ingenieurs- und Facharbeiterkunst geprägte Wirtschaftswelt der Siebziger- und Achtzigerjahre, als der Glaube noch ganz ungebrochen war, dass der Fortschritt immer weiter fortschreitet und dass es den mitschreitenden Bundesbürgern immer besser gehen werde.
Konsum und Autos bilden den visionären Horizont dieser Republik, und die Zukunftsentwürfe des 21. Jahrhunderts sehen so aus: Im Jahr 2020 haben wir 5 Prozent des Fahrzeugbestands durch Elektrofahrzeuge ersetzt. Mithilfe der beiden Konjunkturprogramme, mit denen die Bundesregierung der Finanzkrise gegenzusteuern versucht, wurde auf surreale Weise die Zeit des Wirtschaftswunders nachgespielt: Leute, deren Jobs mit Kurzarbeitergeld bezahlt wurden, standen in mit Abwrackprämie gekauften Autos vor auf Pump bezahlten Baustellen im Innenstadtstau.
Was kümmert mich die Nachwelt
Das westliche Wirtschafts- und Produktionsmodell ist nicht zukunfts- und schon gar nicht globalisierungsfähig. Es verbraucht mehr Ressourcen, als es nachhält, was Umwelt und Klima so verändert, dass ein Überleben in einigen Teilen der Welt künftig unmöglich wird. Dieser Problemzukunft aus Staatsverschuldung, Klimawandel, Ressourcenmangel und Bevölkerungszuwachs lässt sich nicht mit business as usual beikommen. »Was kümmert mich die Nachwelt? Hat sich die Nachwelt je um mich gekümmert?« – dieses Bonmot von Groucho Marx ist bittere Realität: als radikal zukunftsvergessene Signatur unserer Gegenwart.
Dafür gilt eine alte Pathosformel nicht mehr: Unsere Kinder werden es eben nicht besser haben als wir! Eine seltsame Rückwärtsgewandtheit hat Besitz von uns ergriffen, die sich an allem ablesen lässt, was im öffentlichen Raum geschieht: Das reicht von der deprimierenden Fassadensimulation seit Jahrzehnten verschwundener Schlösser, die niemand vermisst hat, bis zu den grotesken Fehlsteuerungen der Bildungspolitik wie der Verkürzung der Schulzeit, von der unablässigen Begehung irgendwelcher Gedenktage bis zur letzten Verkörperung des Politischen in der Lichtgestalt eines über 90-jährigen Kettenrauchers. Keine Zukunft, nirgends.
Republik ohne Vision
Diese Gesellschaft erzählt keine Geschichte über das, was sie sein möchte, sondern lediglich noch eine über das, was sie einmal gewesen ist. Deshalb ist der politische Raum so selbstreferenziell und visionslos. Oder verliert sich in Scheindebatten wie der Frage, ob das Volk der Dichter und Denker genetisch immer dümmer wird, weil Migranten sich nicht integrieren wollen. Geschichten, aus denen sich Motive, Hoffnungen, Wünsche und Interessen ableiten ließen, haben als Bezugspunkt aber nicht die Gegenwart oder gar die Vergangenheit, sondern immer die Zukunft – die Zeit, in die hinein man sich entwirft.
Erst aus diesem Entwurf lassen sich Pläne machen, Vorstellungen entwickeln, Handlungen vollziehen. Es gibt sogar eine grammatische Form dafür: das Futur II. Es beschreibt etwas, das in Zukunft schon geschehen sein wird, und erlaubt uns ein Gedankenspiel: Wie sollen wir vor unseren Enkeln bestehen, wenn später einmal die Geschichte unserer Gegenwart erzählt wird? Werden sie uns als Menschen in Erinnerung behalten, die den Mut und die Einsicht für die notwendige Veränderung der Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft hatten? Oder als einen Haufen ignoranter Egoisten, die um jeden Preis in der Komfortzone einer zukunftsvergessenen Gegenwart weiterdösen wollten, in der Hoffnung, dass es wenigstens für die eigene Lebenszeit reicht?
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