Es steht nicht gut um Frankreich. Die Franzosen ahnen es spätestens seit dem 20. Juni, einem Sonntag. Im Fernsehen lief die Sportsendung Téléfoot, der Moderator
David Astorga diskutierte mit dem französischen Nationaltrainer Raymond Domenech über die klägliche Vorstellung der französischen Équipe bei der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Plötzlich lief ein verwirrter Mann auf die Bühne. Er trug kurze Hosen und Adiletten mit Socken. »Wir alle leiden gerade«, stammelte er unter Tränen, »nicht nur wir – ganz Frankreich leidet. Alle machen uns fertig, ich hab echt keine Lust mehr, ich bin total frustriert.«
Es war wie in einer Therapiesitzung, Astorga sagte: »Das ist ganz wichtig, dass Sie sich aussprechen, Franck.« Der Mann, der da in aller Öffentlichkeit kollabierte, war Franck Ribéry. Jene Führungskraft Ribéry, die einer der Superstars dieser WM hätte werden sollen. Jetzt wirkte er wie ein suizidbereiter Mitarbeiter der France Télécom, der seinen Abschiedsbrief formuliert.
Man könnte die Szene schlicht als Dokument des Zusammenbruchs eines überforderten Leistungsträgers betrachten. Aber Nationalmannschaften sind stets Projektionsflächen für das Volk, das sich in ihnen spiegelt. Daher finden die Deutschen sich gerade vorbildlich modern und integrationsfähig. Ein Gefühl, das die Franzosen kennen.
Von 1998. Damals wurde ihre multikulturelle »Black-blanc-beur«-Mannschaft Fußballweltmeister. Inzwischen sind zwölf Jahre vergangen, und sie sehen ihre Nationalmannschaft nur noch als Symbol für all das, was im Land nicht funktioniert.
Mehr als zwei Drittel der Franzosen sind nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP davon überzeugt, ihr Land befinde sich »im Niedergang«. Nur knapp die Hälfte sieht in Frankreich noch ein »Modell für andere Länder« – für das stolze Frankreich, das immer ein leuchtendes Beispiel sein wollte, eine traurige Einsicht. Der Ombudsmann der Republik, Jean-Paul
Delevoye, warnt vor einer »fragmentierten Gesellschaft«, in der das »Jeder für sich« die Freude an der Gemeinschaft ersetzt. Die Franzosen sind »psychisch erschöpft«, sagt Delevoye. Die Pleite der Équipe Tricolore bestätigte da nur einen bereits vorliegenden Befund: Frankreich steht am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Die Erschöpfungssymptome sind vielfältig: Schon Ende 2007 proklamierte das amerikanische Magazin Time in einer polemischen Titelgeschichte The Death of French Culture. Dabei stellte Time dem Leser eine knifflige Aufgabe: »Schnell, nennen Sie einen französischen Künstler oder Autor von Weltrang!« – »Eben.« Der Artikel provozierte in Frankreich einen beleidigten Aufschrei. Zeitungen druckten Listen mit französischen Künstlern, die von überregionaler Bedeutung seien; Kritiker führten an, Amerikaner könnten den Unterschied zwischen Hochkultur und Entertainment nicht verstehen.
Mit drei Jahren Abstand ahnt man: Time lag nicht ganz daneben. Die einzige französische Kulturschaffende, für die sich der Rest der Welt tatsächlich interessiert, ist Carla Bruni. Und die ist noch nicht einmal eine echte Französin; das letzte aufregende französische Buch hat ein Amerikaner geschrieben – Jonathan Littell.
Große französische Denker – Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida – sind seit mindestens sechs Jahren tot. Die Nachhut besteht aus dem Philosophen Alain Badiou. Der aber denkt sehr komplex über Platon oder die »Hypothese des Kommunismus« nach – und ist deshalb nur begrenzt populär. Ansonsten besteht die Intellektuellenszene in Frankreich aus Bernard-Henri Lévy, kurz BHL, der vor allem für das Tragen von weit aufgeknöpften weißen Hemden bekannt ist. Ein Philosoph im eigentlichen Sinne war BHL nie, er ist eher so eine Art Twitter-Philosoph – ein Alleskommentierer. Er schreibt schneller, als er denkt, und mehr als er liest – und was er liest, liest er nicht gründlich: Unlängst hielt er ein parodistisches Heft mit dem Titel Kants Sexleben für ein ernst zu nehmendes Stück Sekundärliteratur.
(Auf der nächsten Seite lesen Sie, warum auch die berühmten cuisine française nicht mehr das ist, was sie mal war und warum das Scheitern der Nationalmannschaft bei der WM die Franzosen tief getroffen hat.)
Doch der Niedergang der Grande Nation ist umfassender. Der letzte schöne Citroën wurde 1955 gebaut, der atomar betriebene Flugzeugträger Charles de Gaulle, einst Symbol der Vormacht Frankreichs, hat in den letzten Jahren mehr Zeit auf dem Trockendock als auf See verbracht. Und der letzte Sieger der Tour de France aus Frankreich? Bernard Hinault. 1985.
Auch Paris, immer in einer Reihe mit New York, Tokio und London genannt, ist der Esprit verloren gegangen: Der Palais de Tokyo zeigt gerade eine Ausstellung mit jungen, hippen französischen Künstlern – nur leben die meisten in Berlin; das aufregendste Ereignis im ehemaligen Pariser Intellektuellenquartier Saint-Germain-des-Prés war im vergangenen Jahr die Eröffnung des Burger-Restaurants von Ralph Lauren. Bekannt ist, dass in der ehemaligen Kantine von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, dem »Café de Flore«, derweil nur noch Touristen sitzen. Neu ist, dass die Institution des Bistros insgesamt ausstirbt. Von den einst 200 000 typischen Lokalen in Frankreich sind noch 36 000 übrig, allein im Großraum Paris gaben im vergangenen Jahr 2000 auf. Und in den verbliebenen Bistros wird die Milch zum Café au Lait regelmäßig zu heiß aufgeschäumt. Es ist also kein Wunder, dass die Grundstimmung im Lande un peu déprimé ist. Es ist vor allem eine Untertreibung.
Die französische Nationalmannschaft kehrte nicht nur sieglos aus Südafrika zurück, sondern nahezu verwahrlost. Stürmer Nicolas Anelka hatte den Trainer einen »dreckigen Hurensohn« genannt und ihm empfohlen, sich rektal penetrieren zu lassen, die Mannschaft war vor laufenden Kameras in einen Trainingsstreik getreten. So wurde, nach den Worten des Weltmeister-Trainers von 1998, Aimé
Jacquet, »Frankreich zum Gespött der Welt«. Der sozialistische Abgeordnete Jérôme Cahuzac machte den Präsidenten verantwortlich: Das Klima, das in der Nationalmannschaft herrsche, sei jenes, das Nicolas Sarkozy im ganzen Land geprägt habe. »Es ist der Individualismus, der Egoismus, das ›Jeder für sich‹, und der einzige Maßstab des menschlichen Erfolges ist der Scheck, den jeder am Ende des Monats kassiert.«
Das Scheitern der »Bleus« wurde zur Staatsaffäre. Die Sportministerin schäumte. Die Nationalversammlung bestellte Domenech zu einer Anhörung ein. Präsident Sarkozy bestellte den ehemaligen Kapitän Thierry Henry nach der Landung in Paris zum Rapport in den Élysée-Palast ein. Der Beobachter hätte dies nun als einen etwas bizarren Zwischenfall abtun können. Doch zur gleichen Zeit, als Sarkozy und seine Regierung den moralischen Verfall der Nationalmannschaft verdammen, versinkt die politische Klasse selbst in Skandälchen und handfesten Skandalen.
Die Serie begann im Herbst vergangenen Jahres, als Präsident Sarkozy seinen Sohn Jean, einen 23 Jahre alten, mittelmäßig begabten Jurastudenten, zum Vorsitzenden der Verwaltungsgesellschaft des milliardenschweren
Geschäftsviertels La Défense machen wollte. Erst nach Wochen der öffentlichen Empörung erklärte Jean Sarkozy seinen Verzicht auf die Kandidatur. Letzten Winter faszinierte der sogenannte Clearstream-Prozess, eine undurchsichtige Veranstaltung – mit dem ehemaligen Premier Dominique de Villepin als Angeklagten und Sarkozy als Nebenkläger. Es ging um fiktive Schwarzgeldkonten in Luxemburg, mit denen sich französische Politiker und Manager gegenseitig in die Pfanne hauen wollten. Es folgte die »Karatschi-Affäre«: In den 1990er- Jahren waren offenbar Wahlkämpfe mit Geldern aus Waffengeschäften finanziert worden; auch Sarkozy soll daran beteiligt gewesen sein.
Die Franzosen kamen gar nicht mehr dazu, die Skandale der Regierenden wirklich zu verstehen. Denn kaum wurde eine Affäre publik, folgte die nächste sogleich: Der Industrieminister fiel unangenehm auf, weil er in seiner Dienstwohnung Verwandte einquartierte; Staatsminister Alain Joyandet flog mit einem Privatjet für 116 500 Euro zu einer Konferenz über den Wiederaufbau Haitis nach Martinique – und besorgte sich eine illegale Baugenehmigung für sein Ferienhaus bei Saint-Tropez; der mit der Planung des Großraums Paris betraute Staatsminister Christian Blanc orderte auf Amtskosten Zigarren für 12 000 Euro.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie L'Oréal Erbin Liliane Bettencourt wochenlang für Schlagzeilen sorgte und was uns das über den Zustand Frankreichs verrät.)
Dennoch wären all diese Affären womöglich achselzuckend hingenommen worden – in der Geschichte der V. Republik fallen sie nicht besonders aus dem Rah-
men –, wenn nicht noch die Bettencourt-Affäre hinzugekommen wäre. Eine Seifenoper, die damit begann, dass Françoise Bettencourt-Meyers, die Tochter der L’Oréal-Erbin Liliane Bettencourt, den Fotografen François-Marie Banier wegen »Ausnutzung von Schwäche« verklagte. Der Hausfreund Banier habe den labilen Gesundheitszustand ihrer Mutter über Jahre ausgenutzt, um sich von der reichsten Frau Frankreichs Lebensversicherungen, Kunstwerke (inklusive Picasso), Bargeld und eine Insel auf den Seychellen im Gesamtwert von fast einer Milliarde Euro schenken zu lassen. Das allein taugte wochenlang für Schlagzeilen.
Doch zu allem Überfluss hatte der langjährige Bedienstete der Bettencourts Gespräche seiner Chefin mit ihren Beratern aufgezeichnet. Die Bänder enthüllten, dass Madame Bettencourt Teile ihres Vermögens von rund 17 Milliarden Euro auf Schwarzgeldkonten in der Schweiz untergebracht hatte. Man hört, wie ihr Vermögensverwalter der schwerhörigen Multimilliardärin rät, diese sicherheitshalber nach »Uruguay, Hongkong oder Singapur« zu transferieren.
Die Bettencourt-Bänder sind eine »Comédie Humaine« in Hörspielform, zugleich werfen sie ein ziemlich trübes Licht auf die Abhängigkeit der Politik von der Welt des großen Geldes: Nicht nur seine Partei, auch Sarkozy soll von den üppigen Wahlkampfspenden der alten Dame profitiert haben. Eine ehemalige Buchhalterin behauptete, er habe früher nach Diners im Hause Bettencourt gelegentlich »braune Umschläge« mit Bargeld mitnehmen dürfen. Die Buchhalterin hat diese Aussage inzwischen relativiert, Sarkozy spricht von einer »Verleumdungskampagne«, Ergebnis: drei Ermittlungsverfahren. Dass die irgendetwas Konkretes ergeben, ist unwahrscheinlich, denn bei Ermittlungen in Staatsaffären in Frankreich kommt so gut wie nie etwas heraus. Doch die vielen Details aus den Bettencourt-Bändern und den Vernehmungen – schwarze Konten, braune Papierumschläge – scheinen noch die finstersten Ahnungen über die Verstrickung von Kapital und Politik zu bestätigen.
Zwei Tage vor dem französischen Nationalfeiertag gab Nicolas Sarkozy im Garten des Élysée-Palastes ein großes Fernsehinterview. Das macht er immer, wenn er in der Bredouille ist – und derzeit befinden sich seine Umfragewerte auf einem historischen Tiefststand. Es war ein warmer Sommerabend, der Präsident tat alle Vorwürfe ab und versuchte, den Moderator um den Finger zu wickeln, indem er ihn penetrant mit vollem Namen anredete – »Die Welt ist ein Dorf, David Pujadas«. Am Ende hatte Nicolas Sarkozy noch eine Botschaft für sein Volk: »Frankreich ist kein korruptes Land«, sagte der Präsident und fügte hinzu: »Man muss immer ehrlich sein.« Es klang wie ein guter Vorsatz.
Auf dem Kanal Direct 8 lief unmittelbar danach das Weltmeisterschaftsendspiel von 1998. Damals hatte Zidane noch Haare auf dem Kopf, und Frankreich deklassierte Brasilien – es war ein Gruß aus einer Zeit, in der Frankreich noch strahlte.
Illustration: Dirk Schmidt