Da wollte man Markus Söder einmal zur Seite stehen – und dann waren die Fingernägel zu frisch geschnitten. Darum ließ sich der »Söder muss weg!«-Aufkleber kaum vom Laternenpfahl ziehen, der Nagel kam nicht tief genug unter den Stickerrand. Als es doch noch klappte und der »Söder muss weg!«-Aufkleber halb unten war, hielt ich inne. »Was machst du da eigentlich, den Söder hast du doch nie gemocht?«, dachte ich.
Vor der Landtagswahl 2018 hatte ich gesagt, dass ich aus Bayern wegziehe, wenn Markus Söder Ministerpräsident wird. Ich wohne immer noch hier, halte Söder aber weiter für einen Populisten. Mein ganzes Leben schon bin ich CSU-regiert. Egal was sich Strauß, Streibl, Stoiber, Beckstein, Seehofer erlaubt hatten, sie gewannen jede Wahl.
Warum halte ich als lebenslanger Oppositionswähler mit dem Rad am Laternenpfahl, um einen Protestaufkleber gegen die CSU abzuknibbeln? Weil mein erster Gedanke beim »Söder muss weg!«-Lesen war: »Oh Mann, jetzt auch noch hier Querdenker.«
Ich bremste aus einem Abwehrreflex heraus, der mir neu ist und den ich erschreckend finde: Sobald jemand dazu ansetzt, über Politiker zu klagen – ob im Wirtshaus, im Taxi, am Gartenzaun oder in der Schlange vor dem Kino –, möchte ich gehen. Denn ich erwarte beim Satzbeginn »Die Merkel …«, »Der Spahn …« oder »Der Söder …« schon gar nicht mehr gute Argumente oder berechtigte Bedenken, sondern Verschwörungsmythen. Ich sehe den Anti-Söder-Aufkleber-Verteiler im Geiste vor mir: wütender, mittelalter Mann, gegen Gates-Drosten-Greta wetternd, Quelle: Youtube.
Aber was, wenn hinter »Söder muss weg!« nur die Jusos gesteckt hätten? Dann hätte ich mich wie ein CSU-Parteisoldat benommen. Zu Hause las ich nach, wer hinter »Söder muss weg!« stand. Überraschung: auch Personen der Querdenker-Bewegung. Ein dazugehöriges Volksbegehren wollte den Landtag abschaffen, scheiterte aber klar.
Früher, vor der Pandemie und der Flüchtlingsdebatte, habe ich Kritik an der Regierung unvoreingenommen zugehört. »Stoiber muss weg!« hätte ich als Schüler selbst fröhlich geklebt. Aber heute gibt es die AfD, und als »kritische Bürger« bezeichnen sich Leute, die selbst gemalte Judensterne tragen als Protest gegen Maskenpflicht im Supermarkt. Die »Wir sind das Volk!« brüllen, während Neonazis neben ihnen laufen. Die ernsthaft eine Art Sturm auf den Reichstag versuchten.
Wenn die Pforte zum Bundestag mit Schlagstöcken verteidigt wird, hört man automatisch weniger den Reden im Inneren zu und mehr dem Hass draußen. Dass Markus Söder auf einmal staatsmännisch wirkte, lag sehr daran, dass auf der Gegenseite so Vögel wie Attila Hildmann, Ken Jebsen oder Björn Höcke wortführend wurden. Joe Biden wählten viele auch nur als kleineres Übel gegenüber Trump. Mit ihrer Radikalisierung erzeugt die Querdenken-Lügenpresse-Front das, was sie beklagt: Journalistinnen und Bürger wirken staatstreu, wenn sie Corona-Maßnahmen verteidigen. Wenn Grundfragen wie »Impfen oder nicht?« immer noch erklärt werden müssen, raubt das Zeit, Nerven und Platz, um über Wichtigeres zu diskutieren.
Als ich mit einer Mutter, deren Kind zur selben Schule geht wie meines, unaufgeregt über den Sinn von Masken im Sportunterricht sprach, beendete sie jeden Satz mit: »…und ich bin echt keine Querdenkerin.« Es wird Leute geben, die nicht mehr über Politik reden, um Missverständnisse und Streit zu vermeiden. Wenn Querdenken das kritische Denken verstummen lässt, ist dies verheerend für die Demokratie. Und jetzt? Ich sehe weiter »Söder muss weg!«-Aufkleber im Ort, auch neue. Ich lasse sie. Vielleicht möchte jemand bessere Slogans danebenkleben? Wie wäre: »Söder kann weg, Drosten muss bleiben!«