Das Märchen vom Lande

Die Tourismusbranche in China hat das perfekte Ziel für über­arbeitete ­ Großstädter gefunden: eine Dorf-Idylle mit Bauern, Fischern und Wasserbüffeln, in der das Leben  ruhig und ­geordnet verläuft. Es ist nur nicht echt.

Sie wollen kein Stängel des Konsumversprechens mehr sein. Kein Halm, der nur wächst, um abgegrast zu werden. Ausgebrannt und überarbeitet: So fühlt sich eine zunehmend desillusionierte junge Generation und Mittelschicht in Chinas Großstädten. Immer mehr haben das Gefühl, hinschmeißen zu wollen, um sich für »Tang Ping« zu entscheiden, auf Deutsch: »sich flach hinlegen«. Eine Internet-Karikatur erklärt die Bewegung der Leistungsverweigerer. Ein Mann liegt am Boden: »Aufstehen soll ich? Nicht mehr in diesem Leben.« Ein liegender Halm lässt sich nicht stutzen.

Der Kreis Xiapu in der südostchinesi­schen Provinz Fujian verspricht Zerstreuung für die Erschöpften. Bei einem Besuch in der Küstenregion hängt der Morgendunst noch zwischen den Banyan-Feigen, als ein Bauer im Dorf Yangjiaxi seinen Wasserbüffel über eine Lichtung treibt. Die beiden bilden das perfekte Bild ländlicher Ruhe und Zuflucht. Nur dass der Bauer kein Bauer ist, sondern ein Schauspieler. Der Morgendunst kein Dunst, sondern der Rauch aus der Verbrennung von Stroh, das Helfer zuvor entzündet haben. Gleich wird der vermeintliche Bauer umkehren und erneut über die Lichtung wandern. Einen ganzen Tag lang.

Die Dorfidylle ist eine Inszenierung, der Dutzende Hobbyfotografen beiwohnen. Die Besucherzahlen in den Fischerdörfern und an den Stränden Xiapus haben sich zuletzt mehr als verzehnfacht, 2019 waren es offiziell 5,2 Millionen Touristen. Die einst wirtschaftsschwache Region ist zu einem der beliebtesten Reiseziele im Land geworden. Auch Tausende Influencer pilgern jedes Jahr dorthin. Eine junge Städterin schreibt über ihre Reise in das Statisten-Dorf, sie wünsche sich zurück aufs Land: »Die Tücken der Stadt sind zu groß geworden. Ich will meine Gedanken auf den Rücken eines Wasserbüffels legen. Das Tier grasend, während ich auf seinem Rücken schlafe.«

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In den Achtzigerjahren prägten britische Soziologen den Begriff »ländliche Gentrifizierung«, um das Phänomen reicher Großstädter zu beschreiben, die versuchten, dem Druck des modernen Lebens zu entkommen, indem sie das ländliche Leben idealisierten. Chinas Tourismusbehörden haben das Potenzial längst erkannt. In der chinesischen Arbeitswelt sind die Regeln einfach: Sei Wolf oder werde gefressen. Gearbeitet wird nach dem 996-Modell: von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, 6 Tage die Woche. Häufiger noch bis tief in die Nacht. Die Arbeitszeitkultur in chinesischen Firmen wird auch »996-ICU« genannt: ICU steht für intensive care unit, weil überarbeitete Beschäftigte riskieren, auf der Intensivstation zu landen. Diese Realität erscheint in Xiapu für einen Moment vergessen.