Böse Geister können nur geradeaus gehen. Deshalb verlaufen alle Brücken auf der kleinen Insel Xiao Ying Zhou im Zickzack. Damit die Geister an den Ecken ins Wasser plumpsen. Die Insel Xiao Ying Zhou liegt im Westsee, der so heißt, weil er im Westen von Hangzhou liegt, der laut Marco Polo schönsten Stadt der Welt. Hangzhou und Westsee liegen 200 Kilometer südlich von Schanghai, im Yangtse-Delta, an der Mündung eines Flusses, den man auch Zickzack-Fluss nennt, wegen seines glückbringenden Verlaufs. Das mit dem Zickzack scheint jedenfalls bestens zu funktionieren: Vor über 800 Jahren wurde die Insel im Westsee künstlich angelegt, mit Schlamm und Geröll aufgeschüttet, und seitdem träumen Generationen von Chinesen davon, sie zu besuchen, ohne dass die Insel je aus der Mode geraten wäre.
Dabei ist sie winzig und trägt nur zwei kleine Pagoden und ein Teehaus. Drei kleine Steinpagoden stehen vor ihr im Wasser, für das jährliche Mondfest. Dennoch ist die kleine Insel auf dem chinesischen 1-Yuan-Schein zu sehen. 48 Millionen Touristen besuchen den Westsee jedes Jahr. In ganz Asien ist die Insel berühmt, wegen ihrer idyllischen Lage, wegen ihrer Schönheit, wegen ihrer Geschichte. Der Reiswein soll in Hangzhou erfunden worden sein, der Zen-Buddhismus auch. Hangzhou ist eine von sieben ehemaligen Kaiserstädten Chinas, und am Westsee hatten die Kaiser der Sun-Dynastie ihre Residenz. Nach den Kaisern kam Chiang Kai-chek. Er flitterte hier mit seiner Ehefrau, bevor er den Bürgerkrieg gegen Mao verlor und nach Taiwan flüchten musste. Dann kam Mao, auch er wohnte in Blickweite der Insel, monatelang, in einer Residenz auf einer Landzunge gegenüber. Nach Mao kam Deng, und danach auch alle anderen chinesischen Parteiführer. Die staatlichen Gästehäuser auf der Landzunge dürfen mittlerweile auch gewöhnliche Touristen anmieten.
Heute surren kleine Elektroboote durch farbige Seerosenblüten zur Insel, Ruderboote transportieren verliebte Paare, auf dem großen Drachenboot kann man den ganzen Tag über essen, das kleine Menü für immerhin 80 Euro. Um den See herum fahren viele Radfahrer, 50 000 Mieträder hat die Stadtverwaltung von Hangzhou angeschafft, damit möglichst viele Einwohner vom Auto umsteigen.
Morgens kommen die Bewohner zum Tai Chi ans Ufer des Westsees, abends setzen sie sich unter die im Herbst duftenden Zimtbäume, trinken den vielgerühmten Drachenbrunnentee von den Hängen des Westsee-Ufers und spielen Mahjong; Pärchen flanieren am Ufer, trinken italienischen Cappuccino. Der Tag aber gehört den Hochzeitspaaren, die sich am Ufer und auf der Insel mit verliebtem Blick fotografieren lassen. Ganz in Weiß, von Profi-Fotografen, oft schon ein Jahr vor der Hochzeit. Wer in China was auf sich hält, fährt auch in den Flitterwochen an den Westsee auf die kleine Insel.
Su Dongpo, im 12. Jahrhundert Bürgermeister von Hangzhou, hat die künstliche Insel aufschütten lassen. Vor dem Damm, der quer durch den See führt, steht Herrn Sus Skulptur. Er hat die Insel in vielen seiner Gedichte verewigt, Chinesen vergleichen Sus Bedeutung gern mit der, die Goethe für uns hat. Die kleine Insel im Westsee findet am ehesten in Capri ihre europäische Entsprechung.
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Lars Reichardt war nie zuvor an einem Ort, wo er sich mit seinen erlernten Fremdsprachen (Englisch, Französisch, etwas Italienisch) so wenig verständigen konnte wie in Hangzhou. Durch das neu erschienene Buch Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs von Christian Y. Schmidt war er wenigstens mit wichtigen Landessitten bekannt.
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Übernachten Maos alte Residenz im Xizi Hotel, 37 Nanshan Rd., Hangzhou, DZ ab 150 Euro, Tel. 0086/571/87 02 18 88, www.xizihotel.com. Zum Westsee führt u. a. die 16-tägige Studienreise „China-Höhepunkte“ von Studiosus. inkl. Hotels, Flügen und Führer ab 2990 Euro, www.studiosus.com.
Essen Louwailou, 30, Gushan Rd., Tel. 87 96 90 23, www.louwailou.com. 100 Jahre altes Restaurant, Deng hat hier siebenmal gegessen, Kissinger einmal, beiden hat’s geschmeckt.
Unbedingt einen Fremdenführer besorgen, es lohnt sich. Individuelle Touren mit Führer und Fahrer z. B. über www.marco-polo-reisen.com.
Olivier Kugler (Illustration)