Ich habe mir in 36 Jahren Lebenszeit ein enormes, ein Bibliotheken füllendes Wissen über Fußball zugelegt. Um dann Vater einer Tochter zu werden, die Fußball doof findet. Wenn ich ihr den Ball zuschieße, lässt sie ihn regungslos an sich vorbeirollen. Sie sieht einfach keinen Sinn darin, wie ihr Vater aufgeregt japsend einem Ball hinterherzurennen. Aber so schnell gebe ich nicht auf: »Ich reise morgen zu einem Mann, der Weltmeister im Fußballspielen war«, verkünde ich. Die Tochter malt un-
beeindruckt weiter. »Er hat zwei Tore im Endspiel der Champions League geschossen, für Borussia Dortmund, den Lieblingsverein der Oma.« Schweigen. »Er wohnt im Allgäu, da gibt es viele Kühe.« – »Ich will mit!«, ruft sie.
Am Tag darauf muss ich aber allein zum »Karl-Heinz Riedle Fußball Camp« fahren. Kühe auf Bergwiesen waren es meiner Tochter dann doch nicht wert, drei Tage inmitten fußballverrückter Jungs zu verbringen. Darum betrachte ich die Fahrt nach Oberstaufen, vorbei an wirklich vielen grasenden Kühen, als Quartierbesichtigung: Könnte diese Fußballschule meine Tochter in zwei, drei Jahren die Liebe zum Fußball lehren? Meine zweite Hoffnung für die Reise: der Stürmer Riedle – 72 Bundesligatore, 16 für die Nationalmannschaft – soll mir im Herbst meiner Karriere als Freizeitfußballer beibringen, wie man Tore schießt. Darum habe ich als einziger Erwachsener die Stollenschuhe dabei, denn die Camps sind für Kinder und Jugendliche von sechs bis 15 Jahren. Es gibt Fußballcamps für Erwachsene, aber keines schien mir so interessant wie Riedles: Weil er der prominenteste Ex-Profi unter den Campausrichtern ist – Rudi Völlers Fußballschule auf Mallorca hat zugemacht, andere Camps werben mit früheren Bundesligaspielern, die selbst mir nichts mehr sagten. Außerdem sah Riedles Fußballschule auf den Fotos am schönsten aus. In den Bergen, wo die Kuhglocken mehr Lärm machen als der Verkehr, steht das große Vier-Sterne-Hotel und gleich daneben eine Art kleine Jugendherberge, in der die jungen Fußballer in acht Zimmern mit Stockbetten schlafen. Das führt zu rührenden Szenen: wenn sich Mutter und Sohn von Hotelzimmerfenster zum Campzimmerfenster »Schlaf gut! – Du auch! – Hab dich lieb!« zurufen.
Das Hotel und der nahe Sportplatz werden öfter von Bundesligisten zur Vorbereitung gebucht, Hertha BSC Berlin, 1860 München, der FC Augsburg waren hier. An diesem Tag steht auf dem Parkplatz des »Hotel evviva!«, das Riedles Schwester führt, die halbe Nationalmannschaft bereit zum Training: Schweinsteiger, Kroos, Götze, Neuer – die Kinder tragen die Trikots ihrer Helden. Zwei Wochen hat es gedauert, den Termin mit Riedle auszumachen, er ist viel unterwegs – eben noch in der Türkei, wo sein Sohn eine Profifußballkarriere startet, dann wieder in München für einen TV-Sender als Fußballexperte. Zu seinen Terminen gehört auch ein Tag als Trainer in jedem »Karl-Heinz Riedle Fußball Camp«. Von April bis November bietet seine 1996 eröffnete Fußballschule je einwöchige Kurse an. Sie sind schnell ausgebucht.
Bei einem ersten Kaffee erzählt Riedle angenehm uneitel für einen Fußballweltmeister von seinem Leben. Er wohnt mit der Familie hier im Hotel, in einer Wohnung unterm Dach, er geht gerne Skifahren, was ihm früher als Profi untersagt war. Das beschauliche Allgäu, ist ihm, der in Berlin, Rom, London gespielt hat, nicht zu beschaulich geworden. Er mag die ruhige Lage am Dorfrand, zehn Kilometer weg von seinem Geburtsort. Riedle empfiehlt noch einen versteckt gelegenen Badesee ums Eck und muss dann weiter. Er bleibt im Gespräch immer Herr Riedle, er wird nicht zum Kalle, er bewahrt sich Distanz. Gerne ein Autogramm, gerne ein Foto mit den Kindern und mal tröstend über den Kopf streicheln, wenn ein Junge gefoult wurde – aber das Training leiten Fußballtrainer aus der Gegend und im Camphaus passt eine junge Sportstudentin auf die Kinder auf. Ein Drittel der Eltern bleibt während der Campwoche im Hotel nebenan, im Sommer machen die Fußballfamilien das Hauptgeschäft aus. Ein Junge erzählt, »die Mama ist mit meiner Schwester auf Kreuzfahrt im Mittelmeer«, sein Vater steht im Nieselregen, wirkt aber gut unterhalten von den Doppelpass-Übungen des Sohns. Es gäbe genug Wanderwege, Gipfel, Golfplätze, dazu Rodelbahn und Erlebnisbad, aber die Eltern stehen meist am Spielfeldrand.
»Üben. Hundert Mal, tausend Mal.«
»Er hat abgenommen«, sagt eine Mutter, als wir ihrem Sohn beim Training zusehen, »zwei Einheiten am Tag, dazu das Freispiel, das kostet Kraft.« Vom Aufstehen bis zum »Schlafenszeit, jetzt aber wirklich!«-Ruf der Betreuer fliegt immer irgendwo ein Ball durch die Gegend. »Unser Fußballcamp soll mehr ein Urlaub sein und kein Intensivtraining für den Verein daheim«, sagt Riedle. Die Gefahr, mit zu vielen Erwartungen anzureisen, besteht. »Es gibt Eltern, die mir zu engagiert an der Seitenlinie stehen und reinrufen«, erzählt einer der Trainer, dem auffällt: »Die Kinder werden immer jünger angemeldet.« Der bekannte Name Riedle lockt die Eltern nicht nur an, er verführt sie, lässt sie träumen. »Mario Götze war bei uns im Camp, als er zwölf oder 13 war, und derBłaszczykowski von Borussia Dortmund.« Die beiden sind heute 50 Millionen Euro Ablöse wert. »Wir machen bewusst keine Talentsichtung«, sagt Riedle. Aber die bes-ten drei Kinder jedes Kurses werden zur »Campchamp-Woche« im Januar eingeladen, dann sehen Talentscouts zu. In dieser Woche fällt ein noch recht kleiner Junge aus einem Münchner Vorort auf, er spielt bereits in der Jugend des FC Bayern, trägt ein Trikot des brasilianischen Wunderstürmers Neymar und behandelt den Ball besonders geschickt. Das Gesicht mal merken.
Es gibt auch einen Problemfall im Camp: großgewachsen, mäßige Ballbehandlung, der ein Einzeltraining mit Karl-Heinz Riedle erbittet – mich. Als ich in kurzen Hosen auftauche, muss Riedle lachen. Dann sagt er: »Du meinst das ernst, oder?« Ja. Wir spielen mit den Kindern vier gegen vier auf einem Kunstrasenplatz mit Bande. In den Pausen machen Eltern und Großeltern Fotos mit dem Sprössling und Riedle: »Der war Weltmeister 1990!«, sagt der Opa und der Enkel, Jahrgang 2002, nickt kurz. Der Eindruck, den die Trainer in den drei Tagen auf mich hinterlassen, ist gut. Nicht zu streng, nicht zu lasch. Viel Spiel, aber auch Taktikanweisungen. Nur ein Mal weint ein Kind – es muss nach einem Frustfoul vom Platz für fünf Minuten. »Die Eltern trennen sich gerade«, erfährt man, und wenn man den Jungen so abseits auf dem Rasen sieht, wie er klagt, dass sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hat, merkt man, dass der Fußball nicht alle Probleme lösen kann.
Das Training ist beendet, Nebel zieht die umliegenden Berggipfel hinunter ins Tal, Abenddämmerung – und Riedle sagt: »Jetzt zu dir.« Wir beginnen mit Freistößen. »Schieß mal drei, vier«, sagt Riedle, etwa 20 Meter Abstand zum Tor, alle Schüsse gehen weit drüber. Riedle korrigiert mich: »Kleinere Schritte beim Anlauf!« Ich schieße erneut, treffe links oben ins Eck. »Besser«, ruft Riedle. »Üben. Hundert Mal, tausend Mal.« Wir wechseln lieber zum Kopfball. Er flankt, ich springe, köpfe, aber ohne Kraft. »Man muss richtig zum Ball laufen, das hat man einfach im Gefühl, das kann man nicht so gut beibringen«, sagt Riedle. Kurzes Schweigen beiderseits. »Lieber Torschuss?«, frage ich. Er nickt. »Wenn du auf den Torwart zuläufst: nicht zu viel nachdenken, nicht Vollspann schießen, mit dem Innenrist ins Eck schieben.« Hätte ich als Achtjähriger mit einem Weltmeister trainieren können, wer weiß? Sollte meine Tochter doch noch den Fußball für sich entdecken, kommen wir wieder.
Karl-Heinz Riedle
Geboren 1965 in Weiler im Allgäu, drei Kinder. Deutscher Fußballmeister mit Werder Bremen (1988) und Borussia Dortmund (1995, 1996). Gewann mit Dortmund auch die Champions League (1997). Als Nationalspieler Weltmeister (1990) und Vize-Europameister (1992).
Eine Woche im Fußballcamp kostet 459 Euro pro Kind bei Vollverpflegung. Die Eltern zahlen 497 Euro pro Person inklusive Frühstück für sieben Nächte im Doppelzimmer; www.karl-heinz-riedle.de
Fotos: Tobias Binder