Jón Gnarr kann immer noch nicht glauben, dass er Bürgermeister von Reykjavik ist. Und viele seiner Wähler können immer noch nicht fassen, dass sie ihn gewählt haben. Gnarrs Wahlkampf sollte doch nur ein Witz sein, voller Hohn für die Politiker und Banker, die diese Krise nach Island brachten. Gnarr, der beliebteste Comedian des Landes, versprach, dass er so korrupt wie möglich sein werde. Dass er den Stadtrat drogenfrei bekommen und dem Zoo ein Eisbärengehege verschaffen wird. Und gleichzeitig versprach er: »Ich werde alle meine Wahlversprechen brechen.«
Island ist am Boden. Alle wichtigen Banken kaputt, die Währung sowieso. Einst zählte Island zu den fünf reichsten Ländern der Welt, jetzt müssen Hunderte aus ihren Häusern ausziehen, weil sie die Kredite nicht zurückzahlen können, Menschen sind auf Essenspakete von Hilfsorganisationen angewiesen, die Butter im Supermarkt kostet um die Hälfte mehr. Als die Menschen in Reykjavik das erste Mal nach dem Crash einen Bürgermeister wählen dürfen, rechnen sie ab mit dem alten Island.
Mit Jón Gnarr wird ein gelernter Komiker Bürgermeister
Es passiert, woran niemand glaubte: Sie stimmen für »Die Beste Partei«, Jón Gnarrs Clique von Künstlern und Punkrockern. Sie wählen einen Komiker. Er regiert nun die Hauptstadt, in deren Großraum zwei Drittel der Isländer leben. Es ist nicht nur Gnarr. Island packt diese Krise anders an als andere Länder. Die Stimmung könnte sein wie in Griechenland, aufgeheizt, aggressiv. Dort fliegen Pflastersteine. In Island demonstrierten Zehntausende friedlich, sie warfen Eier, ein paar stürmten das Parlament und tanzten dann auf dem Balkon für die Demonstranten. Die Regierung trat schließlich zurück. Und die neue musste den Wählern versprechen, dass die Verfassung umgeschrieben wird – wie anderswo nach einem Krieg.
Während die Griechen wegen der strikten Sparpläne wüten, wollen in Island so viele selbst Politik machen, dass die Kandidatenlisten nicht mehr zu überblicken sind. Eine Kunsthändlerin, ohne Ahnung von Journalismus, kauft die älteste Zeitung des Landes, damit es nicht jemand anderes tut.
Fragt man junge Isländer, ob sie sich Sorgen um ihre Zukunft machen, antworten sie: »Die Frage ist so deutsch.« Die Geburtenzahl ist seit der Krise gestiegen. Bis zur Wahl nannte sich Gnarr Anarchist. Seit er Bürgermeister ist, sagt er Neo-Anarchist. Ein blonder, breitschultriger Mann, 44 Jahre alt. Meist schaut er ernst und nachdenklich, selten lächelt er. Dass er auch einmal Punk war, sieht man ihm heute nicht an. Alles ist grau: Pulli und Jackett, das Rathaus, in dem er sitzt, dazu noch tiefe Augenringe. Es ist 21 Uhr, und er muss noch auf einer Bürgerversammlung reden. Mit den Händen in den Hosentaschen tritt er in einem dunklen Eck des Saals von einem Fuß auf den anderen, nervös, bis er dran ist. Seine Partei hat keine Ahnung von Politik.
Sie haben Glück gehabt und nicht die absolute Mehrheit bekommen, die Sozialdemokraten sind ein erfahrener Koalitionspartner. Die erklären ihnen auch, wer im Stadtrat wann sprechen darf. »Petta reddast«, heißt das Volksmotto, »das wird schon«. Woher dieser Optimismus? Island ist eine verdammt kleine Insel. Zwar mit einer Fläche so groß wie Bayern und Nordrhein-Westfalen zusammen, aber eben nur mit 320 000 Einwohnern. Jon Gnarr kannten viele schon, als er noch ein Kind war, und ließen sich später von ihm chauffieren, als er als Taxifahrer arbeitete. Die Soziologen der Universität von Island sagen, dass diese Nähe vieles einfacher macht, Veränderungen gehen schneller als in anderen Krisenländern, und jeder Einzelne weiß, dass er etwas bewegen kann.
Außerdem leben die Isländer seit Jahrhunderten mit Katastrophen. Im Frühjahr 2010, als sie hofften, der Sommer würde endlich Touristen und Geld bringen, brach der Vulkan Eyjafjallajökull aus. Keiner konnte auf die Insel fliegen. Und die Isländer? Drucken T-Shirts, auf denen steht: »We may not have cash, but we’ve got ash!« Die Livemusik-Kneipen in Reykjavik sind jedes Wochenende voll, als wäre nichts passiert. Auch die Griechen waren vorher feierfreudig. Heute bleiben viele Athener Kneipen abends leer.
»Als Comedian war alles einfacher«
Jón Gnarr ist jetzt ein halbes Jahr im Amt. Der Spaß ist vorbei. Er spürt den Druck, deswegen die Augenringe. »Die Leute haben mir ihren ganzen Ärger anvertraut, und ich muss jetzt etwas daraus machen.« Gnarr hat sich so etwas wie politische Ziele zugelegt: Alle städtischen Busse sollen von Benzin auf Ökostrom umgestellt werden. Reykjavik soll kein Finanzplatz mehr sein, stattdessen will er mehr Geld in die Kultur investieren und damit Touristen anziehen.
Das riesige Konzerthaus am Hafen, dessen Bauruine viele schon als Mahnmal des vergangenen Größenwahns sahen, wird weitergebaut. Die Leute finden das gut, aber sie wissen auch, dass sie allein das nicht vor der nächsten Krise bewahren wird. Sie wollen eine neue Verfassung, die etwa mehr Volksabstimmungen festschreibt. Tausende haben so lange dafür protestiert, bis die Regierung es akzeptierte. Nun wird es einen Verfassungskonvent geben. Jeder darf dafür kandidieren.
Politikwissenschaftler auf der ganzen Welt schauen auf dieses Experiment. Die Regierung rechnete mit etwa 100 Kandidaten, es wurden 523. Zum Beispiel Smári McCarthy; Programmierer, 26, Isländer irischer Abstammung, mit wilden roten Locken. Er sitzt in der »Icelandic Bar«, gleich neben dem Parlament, vor sich sein Netbook. In allen Krisenländern werde über Details von Sparpaketen diskutiert. »Herumdoktern ist okay«, sagt McCarthy, »aber wir machen eine Ganzkörperbehandlung.« Er will mehr Volksentscheide und mehr Pressefreiheit. Seine Welt ist seit dem Crash schöner geworden. Jetzt geben nicht mehr die Jungbanker die Themen in den Bars vor, Materialismus war gestern. Einmal jährlich küren die Konsumforscher und Einzelhändler in Reykjavik das perfekte Geschenk zu Weihnachten. Diesmal wurde es der gute alte Isländerpulli aus der dicken, ein wenig kratzigen Schafwolle, den vor der Krise kaum jemand trug. Jetzt wird es gerade modern, ihn auch selber zu stricken.
Weil die Krone abstürzte, können viele Restaurants keine Rohstoffe mehr aus dem Ausland importieren. Also fingen sie an, mehr mit isländischen Produkten zu kochen: Sie entdeckten zum Beispiel die einheimischen Öle. Designer kreieren Lampen aus Fischhaut, Spieluhren aus Vogelfedern, Pumps mit Fischschuppen. Nach und nach sind junge Künstler eingezogen in die kleinen, bunten Häuser entlang der Einkaufsstraßen im Zentrum. Ateliers, Schmuck, Modeläden reihen sich bergauf zum höchsten Punkt, zum Wahrzeichen der Stadt, der weißen Hallgrims-Kirche.
Wenn die Kunst blüht, bedeutet das eigentlich gute Geschäfte für Lilja Skaftadottir, 51 Jahre alt. Aber ausgerechnet jetzt hat die Kunsthändlerin ihren Job aufgegeben und ein Abenteuer gewagt: Sie kaufte im Frühjahr die älteste Zeitung des Landes, das Boulevardblatt DV. Nicht weil sie Ahnung von Journalismus hätte: »Ich habe gedacht: Wenn ich kaufe, können die nicht kaufen.« Die, das sind die Fischerei-Lobby und ein großer Finanzwikinger, denen die anderen beiden großen Zeitungen des Landes gehören. Auch sie hatten Interesse an DV. Mit denen hätte sich die Misere fortgesetzt, Lobby-Journalismus, kein kritisches Nachfragen, sagt Skaftadottir.
Im Moment erscheint DV dreimal in der Woche, für mehr reicht das Geld nicht. Skaftadottir hat noch nicht einmal einen richtigen Schreibtisch. Noch nennen die meisten Isländer DV ein Schundblatt, die Abo-Zahlen aber steigen. Selbst Professoren interessieren sich nun dafür, denn wenigstens ist DV kritisch. Jeden Tag schreiben sie über die Krise. Die Kunst vermisst Skaftadottir nicht. »Hier wird gerade eine neue Gesellschaft geformt. Ich will Teil dieser Energie sein.«
Der Internationale Währungsfonds hat festgestellt, dass sich Island erstaunlich schnell erholt. Der Staatshaushalt könne schon 2014 wieder ausgeglichen sein. »Wir hatten diese Nahtod-Erfahrung«, sagt der Bürgermeister. »Aber dann haben wir gemerkt, dass wir noch leben.« Die Menschen lieben, dass Jón Gnarr so redet und auch mal zugibt, wenn er keine Ahnung hat. Erst vor ein paar Wochen war es wieder so weit: Gnarr musste den Haushalt planen. Aber wie, wenn kein Geld, sondern nur Schulden zur Verfügung stehen? Er brauche Fachleute, die ihm dabei helfen, sagte er. »Als Comedian war alles einfacher. Ich habe den Leuten immer gesagt: Steuern sind Diebstahl. Das geht jetzt nicht mehr.«
Fotos: Cedric Bihr