Die »Klecksografie« war ein populäres Gesellschaftsspiel, hundert Jahre und mehr ist das her. Dass es den Schweizer Psychiater Hermann Rorschach nicht nur faszinierte, sondern er daraus einen inzwischen sehr umstrittenen Psychotest ableitete, konnte man ja nicht ahnen.
»Klecks«, so Rorschachs Spitzname, testete die Kreativität von Kindern mithilfe der Klecksbilder – nur dann hat er ein bisschen übertrieben. Weil er überzeugt war, mithilfe der Kleckse auch die geistige Gesundheit von Erwachsenen beurteilen zu können. Sah die Testperson beispielsweise viel Bewegung in den Klecksen, deutete dies angeblich auf Kreativität hin, war sie von Farben beeindruckt, war sie womöglich instabil.
Schaden hätte Rorschach damit keinen großen angerichtet, doch einige deutsche Psychoanalytiker exportierten den Test im Zweiten Weltkrieg in die USA, Militärärzte verwendeten bald ein Diagnoseverfahren, das vor allem an Schizophrenen, Epileptikern und geistig Behinderten entwickelt worden war – und machten den Rorschachtest zum allgemeinen Eignungstest für die Armee. Das auf den ersten Blick einfache Rorschach-System mit seinen zehn Bildern kam den Ärzten dabei entgegen.
Und genau diese zehn Klecksbilder sollten nicht in die Hände von Laien geraten, damit »eine Beeinflussung des Tests durch Vorwegnahmen vermieden wird«. Aber ein kanadischer Arzt machte 2010 genau das: Er stellte die zehn originalen Tintenklecksbilder auf Wikipedia, schrieb die häufigsten Antworten dazu und gute Ratschläge. Zum Beispiel sollte man als Proband bei Klecksbild eins am besten eine Fledermaus, eine Motte oder einen Schmetterling erkennen, dann würde man als unauffällig eingestuft. Und im Zweifel sei es immer besser Menschen als, sagen wir, Genitalien zu erkennen.
Die Empörung über den Verrat des kanadischen Arztes war groß, vor allem in
den USA, wo der Test weiterentwickelt wird und immer noch weit verbreitet ist. Bis heute wird er häufig mit herangezogen, wenn entschieden wird, ob ein Gewalttäter auf freien Fuß kommt oder wer das Sorgerecht für ein Kind bekommt. In Deutschland ist das Verfahren nicht mehr populär. Gut so, möchte man sagen. Doch ein wenig hilfreich können die Kleckse schon sein: zum Beispiel, wenn man die neuen Nagellackfarben kennenlernen will.
Fotos: Patricia Schwoerer / Gallois Montbrun & Fabiani; Produktion: Almut Vogel; Produktauswahl: Denise Amend. Mit herzlichem Dank an Jeanine Esser
Fotos: Patricia Schwoerer