Lange lebte Twitter allein vom Geld der Investoren. Nun geht die Firma an die Börse. Twitter-Vogel Larry muss geschäftstüchtig werden.
Uh, Miley Cyrus ist da. Im silbern gestreiften Schwänzelhöschen. Im Büro! Die Mitarbeiter könnens kaum glauben: Nur hin, fotografieren. Und twittern.
Uh, am Empfang hält sie sich einen falschen Schnurrbart vor.
Uh, sie streckt die Zunge raus.
Uh, sie spielt Flipper.
Uh, sie trifft den Chef, im Flur. Ha! Wie er schaut, knapp an ihrem tiefen Ausschnitt vorbei.
Weiter gehts, in die Kantine, auf die Bühne, vor Hunderte von Leuten. Twitter, sagt die Musikerin, ist voll cool. Ja, natürlich, antworten die Mitarbeiter, sogar der Papst twittert. Wie, fragt Miley, der auch? Ja, der auch. Gelächter in Twitters Hauptquartier in San Francisco.
Es ist ja auch ein schräger Besuch, nicht nur wegen Mileys Getue. Hatte sie sich nicht einst von Twitter losgesagt? »I want my private life private« hatte sie gesungen und ihr Profil gelöscht. Na ja, da war sie noch ein Mädchen. Nicht geschäftsfähig. Und überhaupt: Was interessiert sie ihr Gezwitscher von gestern. Wir haben 2013, genauer, den 4. Juni. Ihre neue Platte kommt raus. Als Miley nach rund zwei Stunden wieder fährt, zwitschert ihr Twitters Musikdienst #music großmäulig hinterher: »Ein Besuch in Twitters Headquarter, und Miley ist Nummer eins in den Charts.«
Es ist ein wundersamer Ort, dieses Headquarter, 1355 Market Street: Ein Art-déco-Haus mit endlosen Fluren, in den Nischen reihen sich gläserne Denkwaben, an den Wänden hängen Rehköpfe, vor den Klospiegeln stehen Einweg-Zahnbürsten, in der Kantine gibt es ein DJ-Pult, und schließlich ist da diese Dachterrasse – ein sonnenheller Garten über der Stadt, Bäume, Hecken, Wiese, Liegestühle. Amerikas neue Traumfabrik. An diesem Ort werden Karrieren angeschoben, Millionen gemacht. Von Kunden, Mitarbeitern, Investoren. Bald geht Twitter an die Börse. Es ist der letzte Schritt eines großen Abenteuers.
Vor nicht allzu langer Zeit, als Miley den Kurznachrichtendienst noch verleugnete, war Twitter für viele nur eine Mode, ein Kanal für Schwätzer und Hetzer, die meinten, sie müssten aller Welt mitteilen, dass sie sich gerade die Zehen pulen und die da oben voll scheiße finden. Ausgerechnet dieser Dienst aber hat sich aufgeschwungen, die Welt zu verändern. Hier entscheidet sich, was Nummer eins wird, hier verkündet Barack Obama seinen Wahlsieg, hier erkämpfen sich Völker Freiheit. »Twitter ist meine Lieblingsstadt, ich kann mit jedem reden«, sagt der Künstler Ai Weiwei. Und das Time Magazine stellt die Väter Twitters in eine Reihe mit Alexander Graham Bell, dem Erfinder des Telefons.
Einer der drei Twitter-Väter, Jack Dorsey, steht in diesem Juni ein wenig ratlos auf der Dachterrasse. Wer hat sich denn hier rotzlöffelhaft die schönsten Plätze reserviert? Eine Flasche steht auf dem Tisch, ein iPad liegt daneben, von den milchbärtigen Besitzern keine Spur, jetzt, da der Platz ihnen gehört, holen sie schlurfig ihr Mittagessen. Dorsey zögert kurz, dann zieht er ab nach rechts, zu einem schäbigen Hocker, auf den eine Miley Cyrus ihren silberglänzenden Hin-tern sicher nicht senken würde.
Wenn sie ein Star ist, so ist Jack Dorsey ein Superstar. 36 Jahre alt, Milliardär, Sonnenbrille, schwarze Jeans, schwarzer Pullover, schwarze Haare. Blass ist er, das Gesicht fast ohne Regung, die Stimme gleichförmig, die Sätze karg. Nur keine Silbe zu viel. Mr. 140 Zeichen.
Am Rand der Dachterrasse hämmert ein Presslufthammer. »Stop it!«, brüllt eine Mitarbeiterin rüber. Dorsey sagt nur: »Ich liebe den Lärm der Stadt.« Er war immer ein wenig anders. Als Kind behängte er sein Zimmer mit Stadtplänen. Und ständig überlegte er, was wohl gerade in den Straßen geschieht. Er begann, Funkfrequenzen abzuhören. So konnte er die Stadtpläne mit Leben füllen, mit Feuerwehr und Krankenwagen, am Rechner, in Echtzeit. Eine Beschäftigung, die manche Eltern mit einem Kinderpsychologen besprochen hätten.
Eine Weile dauerte es natürlich, ehe sich Jacks Verhaltensauffälligkeit zur
Revolution auswuchs. Er ließ sich derweil Dreadlocks filzen und einen Nasenring stechen, vertat ein wenig Zeit als Masseur und Jeans-Designer und landete schießlich als Programmierer bei einer kleinen Firma, die Podcasts entwickelte. Langweilig. Wen interessieren schon Podcasts!?
Da das Geschäft schlecht lief, ermunterten die Chefs ihre Mitarbeiter, Ideen zu suchen. Jack ging also mit zwei Freunden in einen Park, sie setzten sich auf einen Spielplatz, quatschten, und irgendwann sagte Jack: Es wäre doch cool, wenn man seinen Freunden mitteilen könnte, was man gerade macht. Und mitkriegen, was in der Stadt so läuft. Der Aufguss seiner Kindheitsschrulle. Und die ewige Teenie-Frage »Was geht?« übertragen in die neue, technische Zeit.
Ja, sagten die Freunde auf dem Spielplatz, endlich mal was, das sie selbst gerne hätten. Was jeder gerne hätte. Jeder will wissen, was gerade läuft. Bei den Kumpels. In der Stadt. Auf der Welt. Beim »White Stripes«-Konzert, beim Super Bowl, auf dem Tahrir-Platz. Am liebsten sofort und überall. Und das war nicht möglich. Zeitungen erzählen von gestern, der Fernseher steht zu Hause, Webseiten berichten selten in Echtzeit, und SMS und Facebook sind nicht öffentlich. So einfach erklärt sich die Kraft Twitters, auch die wirtschaftliche. Die besten Geschäftsideen stillen einfach ein Bedürfnis.
Nun ist eine Idee alleine oft nichts wert. Der Gedanke, es wäre cool, aus weiter Ferne miteinander sprechen zu können, wurde erst zum Geschäft, als Alexander Graham Bell eben den Fernsprecher erfand. In unserer Zeit sind solche großen Erfindungen in der Kommunikation eher selten Apparate, öfter Programme, genannt Protokolle. Eines hat das World Wide Web möglich gemacht, eines die E-Mail.
Twitters Protokoll spielt in dieser Liga. Und es gehört nicht, wie die anderen, der Menschheit, es gehört einer Firma. Die Welt sollte noch eine Weile brauchen, bis sie dies entdeckte; die Inves-toren aber, die Glücksritter unserer Zeit, sahen die Gelegenheit, ihnen tropfte von Beginn an die Gier aus den Knopflöchern. Was für ein Wert, sagten sie. Und dachten so anders als Jack, der junge Nerd mit seinem klapprigen Laptop. Selbst heute, wo er Milliardär ist, funktioniert sein Kopfkasten ganz anders als der eines Investors. »Money?«, sagt er und hebt eine Braue. »Nicht das Geld treibt die Firma«, sagt er, »es ist die Idee.«
»›Fuck you, we are here.‹«
Die Zentrale liegt in einem Problemviertel in San Francisco. Manche Mitarbeiter helfen mit bei Suppenküchen für Obdachlose.
Alle Jubeljahre nur entsteht eine Firma, die Großes in sich trägt, die ohne Mühe die Welt erobert, getragen von einer Idee, einer Erfindung, einem Produkt, das die Welt nicht hat, aber haben möchte. Coca-Cola war so eine Firma, Mercedes, Microsoft, zuletzt Google. Twitter, so glauben viele der Glücksritter, ist eine solche Firma. Und so hat sich ein Spiel um die Firma entsponnen, mit hohen Einsätzen und höheren Erwartungen. Mehr als eine Milliarde Dollar haben Geldgeber in Twitter gesteckt. Etwa zehn Milliarden ist die Firma heute wert. Und bald, so glauben die Spieler, noch viel mehr: Wenn sie an die Börse geht. Twitter, die größte Wette der Welt.
Fährt man von San Francisco nach Süden, ins Silicon Valley hinein, nach Menlo Park, in die Sand Hill Road, wo sich die Wagniskapitalisten nur so scharen, kann man eine Reihe dieser Spieler treffen. Einer ist Ben Horowitz, ein glatzköpfiger Mann, der sich Bilder von Boxern und Computerhelden ins Büro hängt und sich mit seinem Partner Marc Andreessen einen legendären Ruf erkämpft hat. In Blogs jammern Konkurrenten, wie aggressiv die beiden ihnen die Deals klauen. »They are going around putting bombs in all the mailboxes on Sand Hill Road, saying: ›Fuck you, we are here.‹«
Horowitz Partner Andreessen hat Geschichte geschrieben: Mann der Stunde null, Gründer von Netscape, für manche der Erfinder des World Wide Web. Horowitz selbst war Gründer einer Firma, die von Hewlett-Packard für 1,6 Milliarden Dollar gekauft wurde. Sein Blog ist Pflichtlektüre eines jeden, der im Valley den Begriff »business plan« buchstabieren kann: zehn Millionen Leser. Horowitz und Andreessen verwalten Milliarden, halten Anteile bei Facebook, Foursquare, Pinterest, Airbnb, kurz, bei fast allem, was im Valley einen Namen hat; alleine bei Skype haben sie mit kleinem Einsatz 100 Millionen verdient.
Ihr neues, großes Ding: Twitter. Mit 80 Millionen ist ihre Firma bei Twitter eingestiegen. Dessen Wert hat sich seitdem mehr als verdoppelt. Und das ist erst der Anfang …
»Look«, sagt Horowitz: »Wie viele Tech-Firmen haben die Chance, einmal zehn Milliarden Dollar zu verdienen?«
Er macht eine Pause.
»Weniger als fünf.«
Er lächelt.
»Twitter ist eine davon.«
Er lächelt sehr breit.
Die Rechnung solcher Leute wie Horowitz ist folgende: Geldverlieren ist im Valley keine Ausnahme, es ist die Regel. Firmen werden nicht aufgebaut, sie werden in sechs Wochen zusammengenagelt und zum Test in den Himmel geschossen. Dorsey etwa schrieb Twitters Prototypen in 14 Tagen! Die Folge des Tempos: 90 Prozent der Firmen scheitern. Aber fliegt nur eine, nach neun Abstürzen, ist die Wette gewonnen. Verliere ich mit neun Firmen 900 Millionen, so ist mir das herzlich egal, wenn ich mit der zehnten eine Milliarde mache.
Es ist ein Spiel, das in Deutschland undenkbar wäre. Hier stecken Investoren Geld in Firmen, die eine Krankenhaus-Software entwickeln, die hilft, Kosten zu sparen und ein solides Geschäft im Inland verspricht. Im Valley kriegt nur richtig Geld, wer verspricht, das Krankenhaus zumindest neu zu erfinden, und zwar auf der ganzen Welt. Hier wird im Großen gewettet. No risk, no profit.
Die Firmenbewertungen würden in deutschen BWL-Proseminaren zu Verwerfungen führen. In Deutschland schau-en wir auf den Gewinn. In Amerika auf die Gewinnchance. Ist sie ein Prozent, dass ein Start-up 100 Milliarden verdient, ist das – logisch – eine Milliarde wert.
Twitter ist so ein Fall. Der herkömmliche, vernünftige Deutsche müsste die Finger davon lassen. Über Jahre hinweg hat Twitter Verlust gemacht. Der Umsatz ist im Vergleich zu Facebook oder gar Google ein Witz. Und das Management, auch Jack Dorsey, hat lange Zeit solch einen miesen Job gemacht, dass es als Wunder erscheint, dass Twitter überhaupt noch lebt. Die Bloomberg Businessweek amüsierte ihre Leser mit Zeichnungen, auf denen sich Larry, der putzige, blaue Twittervogel, auf alle möglichen Arten versucht umzubringen, mit Gift, Strick, Knarre und länglicher Lagerung auf Eisenbahnschienen. Er schafft es nicht.
Es ist ein faszinierendes Schauspiel: der Widerstreit zwischen dem Gründergeist und dem nun nötigen Geschäftssinn. Der Geist, den Jack ins Unternehmen getragen hat, das Nerdig-Unwirtschaftliche, hat Twitter erst möglich gemacht. Doch zugleich ist er eine Gefahr. So wenig wie Dorsey an Profit dachte, als er Twitter erfand, dachten seine Mitarbeiter lange an Gewinne. Sie zierten sich, mit Werbung oder gar Nutzerdaten Geld zu verdienen.
Die Szene liebte die Twitterleute dafür, sie waren die Guten, die Outlaws, für die Geldgeber aber, die den Spaß finanzierten, waren sie im Vergleich zu anderen Start-ups geradezu faul. »Du könntest nach 18 Uhr eine Granate in Twitters Büro werfen, die einzige Person, die du treffen würdest, wäre die Putzfrau«, sagte etwa der Investor Peter Thiel, Facebooks erster Geldgeber.
Immer wieder stürzte der Dienst ab, sahen die Nutzer den »fail whale« – das Bild von Vögeln, die einen Wal aus dem Meer hieven. Und es gab Sicherheitspannen. Und Neues fiel den Twitter-Leuten auch wenig ein, den Suchdienst, den Musikdienst, fast alles kauften sie ein. Mitarbeiter fingen an, das Unternehmen zu verlassen, Führungskräfte, Talente; das Kreativste an vielen Projekten, schrieb der Softwareentwickler Adrien Gaarf in seinem Blog, seien die Vogelnamen gewesen, die sich die Mitarbeiter einfallen ließen. Und dann der ewige Streit.
Die Gründer Jack Dorsey, Evan Williams und Biz Stone hatten sich zerstritten. Dorsey wurde 2008 als CEO abgesetzt, war nur noch Verwaltungsrat. Sein Nachfolger Evan Williams ging 2010. Es kam einer von außen: Dick Costolo, einst Komiker, dann Manager bei Google, zwei Dinge, die ihm bei Twitters schräger Kultur sehr helfen. Er verordnete den Nerds Management-Kurse, holte weitere Profis von Google. Sagte skandalöse Sätze wie: »Ja, wir wollen Geld verdienen. Punkt.«
Mit aller Kraft baute er das Werbegeschäft aus. Der Umsatz explodierte, knapp 600 Millionen sollen es in diesem Jahr sein, nächstes Jahr eine Milliarde. Und erstmals, so heißt es, machte Twitter im vergangenen Jahr etwas Gewinn. Endlich, sagt Ben Horowitz, verhält sich Twitter wie ein Unternehmen. »Jack hat dieses großartige Produkt geschaffen. Aber Twitter war keine großartige Firma.« Nichts Schlechtes will der Investor über Jack sagen, aber zwischen den Zeilen klingt einiges durch. Wie verschieden die beiden doch sind.
»Ein Unternehmen braucht Einnahmen, um am Leben zu bleiben«, sagt Dorsey. »Aber keiner hier bei Twitter steht morgens auf und sagt: Wir müssen so viel Geld machen wie möglich.« – »Du musst«, mahnt Horowitz, »in den Köpfen auch mal was verschieben, hin zum Business.« – »Twitter bringt Menschen zusammen. Weniger kommunizieren heißt: weniger Mitgefühl«, sagt Dorsey. – »Twitter ist ein Traum«, sagt Horowitz. »Hättest du als Werbetreibender einen Wunsch frei, würdest du doch sagen: ›Bring mir alle Kunden der Welt und teile sie genau auf: Was interessiert sie?‹ Das ist Twitter.«
Die beiden sind Sinnbild der Kultur Twitters: Alle sprechen von Werten, nur eben von verschiedenen. Es ist keine Trennung zwischen Gut und Böse. Der eine erfand, der andere finanzierte etwas mit, das helfen sollte, Despoten zu stürzen und bei einem Unglück, Leben zu retten. Lange Zeit war die Idee stärker als das Geld, nun kehrt sich das. Der Zahltag rückt näher. Das Einlösen der Wette.
Vor zwei Wochen zwitscherte die Firma: »We’ve confidentially submitted an S-1 to the SEC for a planned IPO.« Twitter hat bei der Börsenaufsicht Unterlagen eingereicht, die den Börsengang vorbereiten. Schon im November könnte es so weit sein, vielleicht kommt er etwas später. Es wäre der größte Börsengang seit dem von Facebook.
Wird er genauso eine Enttäuschung für die Anleger? Keiner weiß, ob Twitters Geschäft hält, was es verspricht. Und selbst wenn die Zahlen gut sind, es bleibt viel zu tun für Costolo. Und so folgte eine Minute nach dem ersten Tweet ein zweiter, samt eines Fotos von Mitarbeitern in der Zentrale: »Jetzt zurück an die Arbeit.«
Überall in der Welt läuft es für Twitter, aber Deutschland kommt nicht in Schwung.
Mist, sie hat Miley Cyrus verpasst, dabei wollte Katie Stanton ihrer Tochter ein Foto mitbringen. Stanton hatte keine Zeit. Morgen ist große Twitter-Konferenz, aus aller Welt sind die Mitarbeiter angereist, eben saß die Vizechefin mit dem Team Argentinien zusammen, gleich geht’s zum Team Deutschland.
Gehetzt setzt sich Stanton in eine der Glaswaben. Sie ist bleich, übernächtigt; gestern kam sie aus Rom, wo Twitter ein Büro aufbaut. Kaum sitzt sie, springt die Tür auf, ein Nerd mit Sandalen und dem Bart eines Schrats: »Sorry. Reserviert.« Weiter in die Kantine. Der erste Tisch: zugesaut. Der nächste: zugesaut. Sie holt einen Lappen. Herrlich, auch wenn Twitter erwachsen wird, noch immer erinnert die Firma an eine Studenten-WG.
Zwei Tische weiter sitzt Dick Costolo im Gespräch mit dem Finanzchef. Neben diesem ist Katie derzeit die wichtigste Mitarbeiterin. Sie baut das internationale Geschäft aus. 500 Millionen Nutzer sind ja schön, aber Twitter will mehr, will die ganze Menschheit erreichen. Oder wenigstens jeden, der ein Handy besitzt. Je besser die Story, desto erfolgreicher der Börsengang. Und die überzeugendste Zahl Twitters ist eben das Wachstum, es ist stärker als bei jedem anderen sozialen Netzwerk, 40 Prozent im Vorjahr.
Costolo warb Stanton aus dem Weißen Haus ab, sie hat Barack Obama beraten, Forbes nennt sie eine der mächtigsten Frauen der Welt. Auch Facebook hat sich eine Frau aus der Politik geholt, Sheryl Sandberg. Es steht für das Selbstverständnis der Firmen, sie sehen sich als Macht, als Staaten. Ganz selbstverständlich empfangen sie Staatspräsidenten und waren fast beleidigt, als Deutschland im Mai nur den Vizekanzler schickte. Immerhin, während Facebook Philipp Rösler und seine Entourage fast schon behandelte wie lästige Besucher, hatte Stanton ihn nett herumgeführt.
Sie kämpft um die Deutschen. Überall in der Welt läuft es für Twitter, in Frankreich, Indien, Brasilien, Japan, der Türkei, aber Deutschland kommt nicht in Schwung. Kein Land in Europa, so eine Studie, twittert weniger. Die Deutschen, witzeln sie im Hauptquartier, warten, bis sie sicher sind, dass das Internet mehr als nur ein kurzfristiger Trend ist.
So langsam wendet sich das nun. Vor einem Jahr hat Stanton in Berlin ein Büro aufgebaut, in der Kupferstraße, im Haus neben Angela Merkels Wohnung. Wenn die Kanzlerin schon nicht selbst twittert, so rückt ihr Twitter wenigstens auf die Pelle. Viel machen sie, um die Deutschen zu überzeugen, sagt Stanton. Ihre Leute besuchen Sportler, Politiker – Menschen, die ihre Mitbürger mitreißen sollen mit ihren Tweets. Ausgerechnet Deutschland, Land der Aphoristiker, Schopenhauer, Lichtenberg, Nietzsche.
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Berlin, Schiffbauerdamm, ein junger Mann, Jeans, T-Shirt: Florian Weber. Auch er arbeitete vor sieben Jahren für diese Podcastfirma in San Francisco. Er war einer der beiden, die mit Jack auf dem Spielplatz saßen. Und er hat mit ihm den Prototypen geschrieben, das Protokoll, das die Welt verändern sollte.
Ein Jahr lang, sagt Weber, ist er gependelt zwischen Hamburg und San Francisco. War er zu Hause in St. Pauli, hat er abends um sieben den Rechner angeworfen, die Zeit, in der Jack in Kalifornien ins Büro kam. Durchwachte Nächte, endlose Flüge, der Jetlag – er konnte irgendwann nicht mehr. Er brauchte ein Visum. Aber er bekam keins, als Mitarbeiter einer Butze namens Twitter. Anfang 2007 warf er hin, Jack war tieftraurig, viele Stunden redeten sie darüber. Wochen später war Twitter der Star beim Festival South by Southwest. Das Märchen begann.
Florian gründete eine neue Firma, »Amen«, ein Dienst, der im Layout an Twitter erinnert. Die Nutzer können die Welt bewerten, empfehlen: »Die Sex Pistols ist die beste Punk Band, Amen«; »Stefan Gabanyi mixt den besten ›Moskau Mule‹ der Stadt, Amen.« Die Firma blieb klein, gerade wurde sie verkauft. Vor einiger Zeit hat Florian Jack besucht. Der hat ihn den Twitter-Leuten vorgestellt. Hat gesagt: »Ohne Florian wären wir nicht hier. Er ist einer von uns.«
Nur ohne Heldenstatus, Milliarden und Dachterrasse. Ob er sich in den Hintern beißt? Nein, sagt Florian. Er sei stolz, einer der Twitter-Väter zu sein. Und glücklich. »Geld war für mich nicht alles und wird es auch nie sein.« Er ist eben ein Mann der ersten Stunde.
(fotos: ddp, Getty, Elena Dorfman 2012/Redux/laif, dpa, Corbis)
Illustration: Luke Pearson