Wie im Himmel so auf Erden

Kirchen waren einst das Zentrum von Städten und Gemeinden. Aber welche Rolle haben ­Sakralbauten in der zunehmend säkularen Gegenwart? Gedanken von Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt.

Wenn ich eine katholische Kirche betrete, ­suche ich als Erstes das Weihwasserbecken. Das hat mit Heinz Bienefeld zu tun, einem Architekten, der die schönsten Weihwasserbehältnisse entworfen hat. In der 1974 bis 1981 von ihm errichteten Kirche St. Bonifatius in Wilderbergerhütte-Reichshof bei Köln ist dieses Behältnis eine geradezu fleischige, handtellergroße Jakobs­muschel. Laut den Erzählungen seiner ­Familie – Bienefeld starb 1995 – hatte er sie aus dem Frankreich-Urlaub mitgebracht. Die ­Muschel ist ein Readymade. Bienefeld entwarf sonst jedes noch so kleine Detail, aber diese Muschel war so passend, dass er sie einfach nicht übertreffen konnte. Das Weihwasser­becken hat ja die Funktion, dass sich Katholiken beim Betreten und Verlassen des Kirchengebäudes mit dem Wasser bekreuzigen. Das vom Priester ­geweihte Wasser soll segnen und schützen. Das Schöne an der Muschel ist auch, dass sie den Besucher gedanklich in ganz ­andere Sphären bringt: ans Meer, in den Urlaub. Diese Öffnung des Sakralen gefällt mir sehr gut.

Der Sakralbau hatte immer die Aufgabe, zwischen den Besuchern und der Idee einer ­höheren Ordnung zu vermitteln, nennen wir sie »das Göttliche«. In Deutschland sind vor allem die Sakralbauten der abrahamitischen Reli­gionen sichtbar, der Juden, Muslime und Christen. Wöchentlich finden Rituale wie Tora-Prozession, Freitagsgebet oder Gottesdienst statt. Die meisten Kirchen sind nach ­Osten ausgerichtet, Synagogen Richtung Jerusalem. Moscheen müssen in Richtung Mekka ausgerichtet sein. Licht- und Raumverhältnisse sollen die Kontemplation unterstützen.

Aber der Sakralbau war auch immer ein ­Experimentierfeld: eine architektonische Avantgarde, in der einzelne Stile erprobt und dann auf die Spitze getrieben wurden. Klar ist, dass Sakralbauten heute diese Funktion nichtmehr exklusiv innehaben. So stellt sich die Frage, was neue Moscheen, Synagogen und Kirchen trotzdem interessant macht. Ich meine, es ist die Frage, wie mit heutigen Mitteln etwas entsteht, das über das Heute hinausweist. Etwas »Größeres«, auch wenn die Wege dorthin sehr unterschiedlich sein können.

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»Der Sakralbau war auch immer eine ­architektonische Avantgarde, in der Stile erprobt und auf die Spitze ­getrieben wurden«

Etwa bei Moscheen. In Deutschland gibt es die Tendenz, sich unter einem islamischen Gotteshaus eine Art Heimweh-Moschee vorzustellen: bunte Teppiche, orientalische Ornamente an den Wänden und der Decke. Ein interessantes Gegenbeispiel dazu ist das Islamische Forum in Penzberg, Bayern. Der Kunsthistoriker Christian Welzbacher beschreibt es als »Prototyp einer neuen, zeitgemäßen Euro-Islam-Architektur«, bei der Ornamente abstrahiert und nicht als Füllmittel ausgekippt werden. In eine ähnliche Richtung geht die 2018 entstandene Punchbowl-Moschee in Sydney. Auch hier entschiedensich die Architekten von Candalepas ­Associates gegen traditionelle Elemente wie das Minarett oder ornamentale Verzierungen. Schmucklos ist das Gebäude allerdings nicht: Über dem Gebetsraum liegen 102 halbierte Beton­kuppeln. Durch kleine Löcher in den Kuppeln wandern Lichtstrahlen während des Tages durch den Raum – ein einfaches und schönes Symbol.

Aber es gibt auch ganz andere Wege. Der derzeit wohl ungewöhnlichste christliche Sakralbau befindet sich auf einem privaten Feld in Nordrhein-Westfalen. Ein Bauer gab 2005 den Auftrag an den Schweizer Star­architekten Peter Zumthor, eine Kapelle für den Lieblingsheiligen seiner Mutter, Nikolaus von Flüe, auch Bruder Klaus genannt, zu ­bauen. Da Zumthor die Liebe zum Mystiker Klaus teilt, sagte er den Auftrag zu. Er entwarf einen fünfeckigen, archaischen Bau: Über einem Bündel roher Baumstämme wurde ein Kubus aus Stampf­beton errichtet. Danach wurde ein Mottfeuer ­entfacht, so entstand der winzige, rußschwarze Innenraum der Kapelle. In ihm haben zehn Personen Platz. Ein sehr intimer Raum, der zum Meditieren einlädt.

Die zentrale Frage ist, welche Rolle Sakralbauten in einer zunehmend säkularen Gesellschaft haben. Es ist kein Zufall, dass der Zumthor­-Bau das Privatprojekt eines Gläubigen ist. Glauben ist heute, zumindest im Christentum, eine private Angelegenheit. Die großen Kathedralen, die in vielen Städten das Zentrum bilden, verweisen auf eine Zeit, in der der Glaube eben wirklich im Zentrum der Gesellschaft stand. Heute sind die Kirchen meistens nur noch zu Weihnachten voll. Zugleich gibt es andere Glaubensgemeinschaften, die verständlicherweise für sich einen Ort in der Gesellschaft verlangen. Wie geht man mit dieser Situation um?

Oliver Elser
ist Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main. ­Seine fachliche Beschäf­tigung mit dem Sakralbau begann mit den Kirchen der Nachkriegsmoderne – damals war Elser ­Architekturstudent.

Einen Lösungsansatz sehe ich in einem inter­religiösen Dialog. Ein Beispiel für einen solchen Sakralbau neuen Typs ist das Ökumenische Forum in der HafenCity in Hamburg, geplant von den Architekten Wandel Lorch. Es beinhaltet eine Kapelle, Veranstaltungsräume und ein Café. Es soll ein Ort des Dialogs sein. Das Forum ist sehr bescheiden gebaut, vielleicht zu bescheiden – man muss es suchen. Aber es zeigt, dass Religion auch heute noch ein Bestandteil der Gesellschaft ist.

Ein weiteres spannendes, noch zu realisierendes Experiment ist das »House of One« in Berlin. Es soll vom Architekturbüro Kuehn Malvezzi innerhalb der nächsten Jahre als interreligiöses Gebäude errichtet werden. Das Haus auf dem Petriplatz wird unter einem Dach Synagoge, Moschee und evangelische Kirche vereinen. Die drei Gebäude, die durch einen zentralen Raum verbunden sind, werden außen auf ihre religiösen Symbole verzichten. Nur anhand des Grundrisses wird man die separaten Gebetsräume ihrer jeweiligen Religion zuordnen können. Die Frage ist natürlich, ob das religions­fernen Menschen den Zugang erleichtern wird.

Vielleicht muss man heute aber auch von einem erweiterten Begriff von Sakralbauten sprechen. An einem durchschnittlichen Sonntag ist in den großen Museen in Deutschland wesentlich mehr los als in Kirchen. Doch wenn man genau hinschaut, haben beide Institutionen viel gemeinsam. Der Besuch in beiden ist ähnlich hoch ritualisiert. Die James-Simon-Galerie in Berlin, geplant vom Architekturbüro David Chipperfield und fertiggestellt im vergangenen Jahr, steht für diesen Bedeutungswechsel. Es ist ein moderner Tempel mit einem kräftigen ­Sockel und einem ganzen Wald aus Säulen. Auf breiten Stufen schreitet man hinauf und hebt sich vom Alltag ab. Wird hier der Profanbau ­sakralisiert? Vielleicht hat der Museumsbesuch den Kirchenbesuch ersetzt. 

Protokoll: Marie Degenfeld