Als ich noch zur Schule gegangen bin, habe ich gar nicht gewusst, dass ich schon im Paradies lebe: Ich bin in der Kölner Südstadt aufgewachsen. Die Südstadt ist ein herrliches Viertel in Köln: Altbauten, Cafés, Restaurants, Bars, U-Bahn, alles sehr lebendig und hip. Auf das Abitur folgte das Studium und damit der Auszug aus dem Paradies, denn im Paradies konnte ich mir die Miete nicht leisten. Stattdessen bin ich zum Studium in die hessische Provinz gezogen. In Marburg habe ich mich damals zwar sehr wohl gefühlt, aber nie daheim.
Kein Wunder, denn die meisten Menschen fühlen sich in Gegenden zu Hause, die so sind wie die, in der sie aufgewachsen sind. Und so wie Oberammergau und Unterammergau sich vermutlich ähneln, ähneln sich die Kölner Südstadt, die Hamburger Schanze und das Münchner Glockenbachviertel in vielen Dingen: die Geschäfte, die Bewohner, ihre Sicht auf die Welt. Meine Heimat, das sind die Großstädte in diesem Land, aber hier scheint es keinen Platz mehr für mich zu geben.
Ist das nicht ein Fall für das Heimatministerium? Zwei Drittel der Deutschen sehen den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch immer höhere Mieten bedroht. Seehofers Beamte aber beschäftigen sich seit Monaten viel mehr damit, knapp drei Dutzend Flüchtlinge am Tag an der Grenze zu Österreich abzuweisen. Ohnehin scheinen konservative Kräfte, allen voran die AfD, die Heimat in diesem Land in erster Linie durch vermeintlich Fremde gefährdet zu sehen. Angesichts einer Ausländerquote von 19 Prozent in meiner Heimatstadt Köln kann ich mir nicht erklären, wie Ausländer mir meine Heimat wegnehmen sollten. Im multikulturellen Köln kann man sich sehr gut daheim fühlen, ich lebe dort lieber als in einem Dorf mit nahezu keinem Ausländeranteil.
Seit ich merke, dass ich mir deutsche Großstädte nicht mehr leisten kann, finde ich das Thema Heimat gar nicht mehr so albern. Bis vor Kurzem habe ich in München gewohnt, nein, nicht in München, sondern in Ottobrunn. Einem Vorort, in dem ich mich wenig heimatlich gefühlt habe. Die Leute leben hier nicht, so mein Eindruck, sie leben in München und kommen zum Schlafen nach Ottobrunn. Demnächst ziehe ich nach Frankfurt, eigentlich eine tolle Stadt, international und lebendig, genau wie meine Südstadt. Aber die beliebten Städte sind so beliebt, dass die meisten Bewohner in den Speckgürtel ziehen müssen.
Würden Konservative, deren Markenkern doch Heimat ist, sich bitte endlich mal um meine Heimat kümmern, anstatt von irgendwelchen Ankerzentren und rechtlich zweifelhaftem Grenzschutz zu reden? Damit wir Großstädter weiter in unserer Heimat leben können, braucht es eine Mietpreisbremse, die ihren Namen verdient, und Sozialbauwohnungen, nicht in den Randlagen, sondern gerade im Zentrum. Eigentlich ein linkes und ein konservatives Projekt zugleich.
Solange aber CDU und CSU die Mietpreisbremse torpedieren und die Privatisierung kommunaler Wohnungen in vielen Städten ermöglichen, kann ich diese Parteien weder heimatverbunden noch konservativ im eigentlichen Wortsinne nennen. Vielmehr tragen sie mit beachtlicher Konsequenz zum Niedergang meiner Heimat bei.
In meinem alten Viertel in Köln entdecke ich oft, wenn ich meine Mutter besuche, neue Bauprojekte. An den Bauzäunen hängen Transparente, die großspurig vom urbanen Flair schwärmen. Bewohner verteilen hier manchmal Flyer, wenn ihr Haus das nächste ist, das aufgewertet oder ersetzt werden soll. Letztens schickte der neue Eigentümer einer hübschen Stadtvilla in meiner Straße eine Truppe Holzfäller, um die Kirschen und die Pflaumenbäume im Garten fällen zu lassen, nachdem die Mieter nicht ausziehen wollten. Laut Stadtverwaltung besteht hier eine Baugenehmigung für 24 Wohnungen inklusive Tiefgarage.
Wenn sich nicht was ändert, dann sind die Großstädte bald nur noch seelenlose Kulissen, die von ihrer eigenen Vergangenheit erzählen: touristisch interessant, aber ohne Lebensqualität, so wie London. Ich halte London für die schrecklichste Metropole in Europa. Im Stadtviertel East End etwa hat mal die Jugendkultur geblüht und der Punk randaliert, bis das ganze Geld nach London kam, von Leuten, die sich in die Londoner Urbanität einkaufen wollten. Erst wurden die Künstler von den Reichen verdrängt und heute werden die Reichen von den Superreichen verdrängt. Milliardäre gentrifizieren Millionärsviertel. Das East End ist ein begehbares Immobilienportfolio geworden.
Und die Leute, deren Heimat London ist? Die ziehen in die fürchterlichen Bettenlager in der Vorstadt und fahren täglich lange in die Stadt, ein Pendeln zwischen innerem und äußerem Kreis der Hölle sozusagen. Oder sie ziehen in andere europäische Großstädte, wo der urbane Niedergang noch nicht abgeschlossen ist. Obwohl, das können sie demnächst vielleicht auch nicht mehr so leicht machen. Dank dem Brexit – einer konservativen Bewegung.