Für einen Moment wollen wir uns vorstellen, es gäbe keine Berge. Überhaupt keine. (Bitte, ich spreche von großen Bergen, nicht von Erhebungen, nicht vom Kreuzworträtsel-Höhenzug-mit-drei-Buchstaben, na? Genau: dem Elm.)
Und nun käme jemand und würde sagen: Ist es nicht schade, dass es keine Berge gibt? Wollen wir nicht Berge einführen? Es entstünde eine große Debatte: Berge oder nicht? Es gäbe eine Volksabstimmung. Und ich wette, eine überwältigende Mehrheit wäre der Meinung: Ja, es soll Berge geben, aber nicht da, wo ich wohne. Ich möchte die Berge sehen in der Ferne, würden die Leute sagen, ich möchte dorthin fahren können, die Berge sollen eine Möglichkeit in meinem Leben sein. Aber ich möchte nicht dort leben müssen, mit dem vielen Schnee im Winter und dem Schatten, den die Berge schon am Nachmittag werfen, und dem ständigen Gelärme der Bergbewohner, ihrem Goaßlgeschnalze und Schuhgeplattle bereits vor dem Wecken, nur unterbrochen vom eintönigen Ruf der Berge.
Wie lästig Berge im Alltag sind, erfahren wir aus der Geschichte des Mannes Ramchandra Das, 53, dessen Dorf Kevati im indischen Bundesstaat Bihar durch einen Berg so von der Außenwelt abgeschnitten war, dass die Bewohner einen sieben Kilometer langen Weg zur Arbeit hatten und Ramchandra Das seinen neuen Lastwagen ebenso weit weg von seinem Haus parken musste. Das ist nun vorbei, denn Ramchandra Das hat in 14 Jahren mit seiner Hände Arbeit, mit Hammer und Meißel ganz allein einen Tunnel gegraben, von dem das ganze Dorf profitiert.
Die Inder erinnern sich in diesem Zusammenhang an einen noch größeren Tunnel-Bauer, Dasharath Manjhi, dessen Frau starb, weil sich ein Berg zwischen ihr und dem nächsten Krankenhaus befand. Dasharath Manjhi wühlte sich, auch er allein, daraufhin in 22 Jahre langer Tätigkeit durch diesen Berg. Er schuf eine 120 Meter lange, zehn Meter breite, acht Meter hohe Röhre. Dann starb auch er.
Die einzigen Berge, die nicht immobil sind: Eisberge. Gerade treiben Hunderte von ihnen durch den Pazifik, sie habe sich pünktlich zum Kopenhagener Gipfel von der Antarktis gelöst und wollen nach Neuseeland. Doch nur wenige werden dort ankommen. Es wird ihnen zu warm werden unterwegs. Diese driftenden Eisberge haben etwas Verzweifeltes, Lemminghaftes. Sie reisen ins Verderben, aber sie können nicht anders, immer wieder machen Eisberge sich auf den Weg ins sichere Schmelzen, tumbe, todgeweihte Riesen.
Natürlich führt dies zur Frage, wie es wäre, wenn auch unsere Berge mal auf Fahrt gingen, wenn zum Beispiel die Zugspitze (oder jedenfalls ein Teil von ihr, der Gipfel vielleicht) nicht immer nur bei Garmisch läge, sondern eines Morgens beschlösse, sich auf den Weg Richtung Hamburg zu machen, aus Sehnsucht nach dem Meer, nach Sylt, den Dünen. Oder einfach aus Freude an der Bewegung.
Was da in Deutschland los wäre! Wie die Freiwilligen Feuerwehren von Tölz und Wolfratshausen sich mutig, doch vergeblich dem Berg in den Weg stellen würden. Wie der bayerische Landtag zusammenträte, zur Klärung der Frage, ob die Staatsregierung dies nicht hätte wissen oder jedenfalls ahnen müssen! Wie Reinhold Messner herbeieilte, der Bergversteher, der Gipfelflüsterer, um dem reisenden Berg gut zuzureden! Wie man versuchen würde, die Zugspitze irgendwie wenigstens um München herum zu komplimentieren!
Darf man aber Starnberg opfern, um die Landeshauptstadt zu retten? Darf man zulassen, dass der Berg schmatzend unsere reichsten Orte unter sich begräbt? Dass er am Ende anderen, noch zögernden Gipfeln als Vorbild dient? Darf man die Zugspitze sprengen, wenn sie so außer Rand und Band gerät? Darf man sie nach Vorpommern umleiten, um dem dortigen, unter krasser Gipfelarmut leidenden Tourismus aufzuhelfen?
Und wie hoch würden die Meeresspiegel steigen, ginge das gesamte Zugspitzmassiv bei Cuxhaven ins Meer?
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Zugspitze und Watzmann sollen bleiben, wo sie sind, aber wenn ihm im Sommer der Münchner Nockherberg mitsamt dem Biergarten etwas entgegenkäme, hätte Axel Hacke nichts dagegen.
Dirk Schmidt (Illustration)