Was ich an der Menschheit mag: wie sie gleichzeitig nach Antwort auf die allergrößten Fragen sucht, während sie der allerkleinsten Probleme nicht Herr wird.
Einerseits haben vor Kurzem 10 000 Techniker und Physiker aus sechzig Ländern im Genfer Teilchenbeschleuniger den Urknall nachgestellt, indem sie allerhand Protonen und derlei Kleinkram auf 300 000 Kilometer pro Sekunde beschleunigten (das ist 3 375 000-mal schneller als Schumachers Auto in den schnellsten Momenten) und dann aufeinander zurasen ließen, damit sie zerplatzten und zu noch kleineren Teilchen wurden. Andererseits ist das Ehepaar Martin, beide weit über achtzig Jahre alt, in den vergangenen acht Jahren in seiner Wohnung in Brooklyn fünfzig Mal von Einsatzkräften der New Yorker Polizei heimgesucht worden, weil im Jahr 2002 ihre Adresse zu Testzwecken in den Computer eingegeben wurde, nun aber nicht mehr daraus zu entfernen ist.
Einerseits sucht der Mensch also unter der Erde von Genf nach den allerkleinsten Welt-Partikeln, den sogenannten Higgs-Teilchen, sozusagen den Yetis der Physik: Man glaubt, dass es sie gibt, aber niemand hat sie je gesehen. Und er nähert sich dabei der göttlichen Gewalt, mit der die Welt einst geschaffen wurde.
Andererseits wäre das Ehepaar Martin froh, wenn es einen Gott gäbe, der nicht nur Higgs-Teilchen schüfe, sondern wenigstens ab und zu auch mal New Yorker Cops daran hinderte, morgens um sieben ein Martin’sches Wohnungsfenster zu zerbrechen, um mal wieder nach dem Rechten zu sehen.
Es geht halt nicht. Man muss die Welt, die Physiker, die Martins und die New Yorker Polizei nehmen, wie sie sind. Letztlich bestehen sie alle aus den gleichen winzig kleinen Teilchen, daran wird es liegen.Übrigens ist neulich der Buchautor Raj Patel in eine ähnliche Endlos-Schleife des Lebens geraten wie die Martins, nur dass er von einem Tag auf den anderen von einer Sekte als Messias verehrt wird und nichts dagegen tun kann.
Patel erschien in einer amerikanischen Talkshow, um für sein neues Buch zu werben, wobei Details seines Lebenslaufes bekannt wurden: als Kind aus Indien nach London gekommen, dort aufgewachsen, ein kleiner Sprachfehler und eben ein Auftritt im Fernsehen. Genau an diesen Einzelheiten werde man dereinst den Messias erkennen, hatte Jahre zuvor der Gründer jener Sekte vorhergesagt, ein Schotte namens Benjamin Creme.
Und nun erscheinen Sektenmitglieder bei Patel, rufen ihn an, schicken ihm Post und verehren ihn. Dass er bestreitet, der Erlöser zu sein, nützt ihm wenig. Genau das hatte Benjamin Creme nämlich prophezeit: Der Messias werde bestreiten, der Messias zu sein. Auf sehr verblüffende Weise erinnert das an den Monty-Python-Film Das Leben des Brian, in dem eine Menschenmenge einen harmlosen Mann namens Brian für Gottes Sohn hält.
Brian streitet das vor einer Menschenmenge ab, worauf eine Frau aus der Menge ruft, ja, genau, nur der wahrhaftige Messias leugne seine Göttlichkeit, worauf wiederum Brian ruft, na gut, dann sei er eben der Messias, worauf wiederum die Menge jauchzt: »Er ist der Messias!«
Was lernen wir daraus? Einerseits: Raj Patel hat keine Chance. Andererseits: Jeder von uns kann jederzeit und überall zum Erlöser zumindest einer kleineren Glaubensgemeinde werden, es sei denn, er träte nie im Fernsehen auf, aber wer tut das schon, heutzutage?
Den spektakulärsten Lebenslauf in dieser Hinsicht hat der 32 Jahre alte Engländer Steve Cooper. Er war bis Ende 2006 in London arbeitslos gemeldet, seitdem aber lebt er in Indien, wo man ihn (er sieht ein wenig feminin aus) als eine Art Fruchtbarkeitsgöttin verehrt. Eine weitere Lebenswegstrecke legte selten ein Mensch zurück.
Interessant wird sein, wie das Londoner Arbeitsamt, sollte Cooper je dorthin zurückkehren, mit dessen Antwort auf die Frage nach seiner letzten Beschäftigung umgeht.
Illustration: Dirk Schmidt