Es gibt gute Nachrichten aus dem fernen Großbritannien. In der Daily Mail las ich, Bob Weighton aus Alton in Hampshire sei 111 Jahre alt geworden, Britain’s oldest man. Was nicht in der Daily Mail stand, jedoch den BBC News zu entnehmen war: Es gibt in Großbritannien nicht nur einen 111 Jahre alten Mann, es sind zwei. Denn auch Alfred Smith aus St Madoes in Perthshire, ein Schotte, feierte kürzlich seinen 111. Geburtstag, und zwar am 29. März, das ist exakt der Tag, an dem Bob Weighton zur Welt kam. Die ältesten Männer des Landes sind beide am 29. März 1908 geboren. Britain’s oldest men. Uhrzeiten sind unbekannt. (Man kann wohl sagen, dass es angesichts von 111 Jahren auf ein Stündchen nicht ankommt.)
Natürlich erhebt sich die Frage: Mr. Smith, Mr. Weighton, wie schafft man es, so alt zu werden?
Porridge is helpful, sagt Alfred Smith.
Just avoid dying, sagt Bob Weighton.
Haferbrei? Ehrlich: Müsste ich zum Frühstück Haferbrei essen, meine Lebenslust wäre eingeschränkt. Ich nehme eine Rosinenschnecke und werde nur 110, das ist in Ordnung. Ich bin ein Raubtier, was Rosinenschnecken angeht, am 29. März 2019 kam in einer Bäckerei meines Viertels eine Rosinenschnecke zur Welt, die keine Stunde alt wurde. Sie starb ohne Schmerzen. Raisin roll dies young.
Aber der Rat, das Sterben zu vermeiden, da ist was dran. Ich las André Hellers Gespräche mit seiner Mutter in deren 102. Lebensjahr, Uhren gibt es nicht mehr heißt das Büchlein. Es enthält 18 kurze Unterhaltungen über Leben und Sterben, und zu den sehr anrührenden Stellen gehört jene, an der Elisabeth Heller (die 2018 zwei Tage vor ihrem 104. Geburtstag starb) sich anhört, wie ihr Sohn erklärt, sie sei »im Grunde pumperlgsund, dein Herz ist intakt, die Leber, die Nieren, die Augen, die Lunge, alles«, und wie sie in diesem Zusammenhang ratlos fragt: »Wenn ich nicht krank bin, wie soll ich dann sterben?«
Worauf der Sohn Vorschläge macht, es könnte ein Meteorit aufs Haus fallen, vielleicht werde auch übergroße Müdigkeit die Ursache sein, Schwäche. Außerdem trinke sie zu wenig, sie lasse die Flüssigkeit oft zehn Minuten lang im Mund und vergesse das Hinunterschlucken. »Das ist, weil ich so selten rede«, sagt sie. »Wenn man redet, merkt man sofort, dass eine Flüssigkeit im Mund ist, aber das stundenlange Schweigen lässt einen völlig den Mund vergessen.«
Also reden ist auch gut für ein langes Leben? In der Welt stand ein Interview mit dem schwedischen Wissenschaftsjournalisten Henrik Ennart, der Das Kochbuch der 100-Jährigen – Rezepte für ein langes Leben verfasst hat und dafür Gegenden besuchte, in denen besonders viele Menschen älter als hundert werden, Okinawa in Japan zum Beispiel, die griechische Insel Ikaria oder Acciaroli südlich von Neapel. Ergebnis: Die Leute essen, was es bei ihnen in der Gegend so gibt, also wenig Chia-Samen in Acciaroli, eher Olivenöl und Tomaten. Aber sie bereiten alles selbst zu. Sie kochen ihr Leben lang. Sie nehmen sich Zeit dafür. Sie essen keine Fertigsaucen. Sie haben keine Mikrowellen. Superfood aus Japan, Algensalat etwa, nütze einem Deutschen nicht viel, sagt Ennart, er habe nicht die entsprechenden Bakterien im Darm, um das Zeug nutzbringend zu verarbeiten.
Und wenn man doch sterben muss? Als was sie gerne wiedergeboren würde, hat Heller seine Mutter gefragt. Als große Sommerwiese, hat sie gesagt, die Blüten, der Duft, die Insekten … Und er? Vielleicht als wildes Gewitter, war seine Antwort, intensiv, turbulent, aber kurz, man könne sich rasch der nächsten Inkarnation zuwenden, »da geht wenigstens was weiter«.
Und ich?
Als 29. März vielleicht?
Jedes Jahr ein Frühlingstag: nachschauen, wie’s läuft auf der Welt. Was Alfred Smith macht. Und Bob Weighton. Und wieder meiner Wege gehen, in der Ewigkeit.