Das Beste aus meinem Leben

Gelegentlich fragt man sich, ob es noch eine Identität des Menschen gibt, die von dem Ort herrührt, an dem er lebt. Gibt es zum Beispiel noch etwas wirklich »Münchnerisches«? Oder hat sich alles, was einmal münchnerisch war und es noch sein könnte, längst von den Menschen entfernt und ist zum Fremdenverkehrs-Argument geronnen? Zu etwas, das man Japanern erzählt oder Hamburgern?Mancher der Orte, die als besonders münchnerisch gelten, wären ja ohne den ständigen Besuch von Nicht-Münchnern nicht mehr existent – und ich meine nicht nur das »Hofbräuhaus«. Laden für Laden schließen in der Innenstadt alte Münchner Geschäfte und werden ersetzt durch Filialen internationaler Klamottenketten. Und wer spricht noch Münchnerisch? (Der Luis jedenfalls nicht, obwohl er ein Münchner ist.) Wenn jemand Münchnerisch redet, wenn also aus einem der Läden in unserer Straße plötzlich über die Straße ein herzhaftes »Kruzinesen!« herüberschallt – gleich hat man ja ein seltsames Gefühl. Als sei es nicht echt, bloß gegen Honorar bestellt von der Frau Weishäupl vom Fremdenverkehrsamt.Vermutlich kommt der Tag, an dem man den richtigen Münchner daran erkennt, dass er astreines Hochdeutsch redet und Pils trinkt, weil ihm die über den Föhn klagenden, »vor dem Zwölfeläuten« Weißwurst zuzelnden, lauthals Dialekt sprechenden Fremden so sehr auf die Nerven gegangen sind, dass er keinen anderen Weg mehr gesehen hat, sich etwas Eigenes zu bewahren. Der ganze Wahnsinn lässt sich ja in einer Beobachtung zusammenfassen, dass nämlich ein erheblicher, wenn nicht der überwiegende Teil aller München-Besucher den Moshammer und seinen Hund für etwas Münchnerisches hält!In solche Gedanken verstrickt, setze ich mich aufs Fahrrad und radle durchs Lehel hinauf nach Bogenhausen zur Monacensia, wo eine kleine Ausstellung über Sigi Sommer zu sehen ist, der im August seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte, wäre er nicht 1996 gestorben.Sommer hat zu seiner Zeit das Leben der Münchner in hunderten und aberhunderten von Geschichten beschrieben, erschienen in der Süddeutschen und der Abendzeitung, meistens in seiner Kolumne »Blasius, der Spaziergänger«. Um den Bogenhausener Gaslaternenanzünder ging es da und um den Papa Schichtl, der auf dem Oktoberfest Schein-Enthauptungen veranstaltete, um den Wurmhändler Micheli am Viktualienmarkt und den »Faschingsball des Krankenunterstützungsvereins der Schweinemetzger«, dessen Damenwahl vom Autor so beschrieben wurde: Er hätte nie gedacht, »dass ein Schweinemetzger so begehrenswert sein könnte, bis er persönlich sah, wie hart die anwesenden Streichwurstchemiker von den meistens sehr umfangreichen Damen berannt wurden«.In der Ausstellung sieht man, was man in Ausstellungen über Schriftsteller eben sieht: Handschriftliches, überarbeitete Manuskripte, Gratulationsbriefe anderer Autoren, erste, bis dato vergessene Gedichte. Fotos: Sommer mit Kästner, Sommer mit Ratzinger, Sommer mit Strauß, Sommer mit Sommer (Elke). Man liest alte Texte und entdeckt einen wieder, der keineswegs bloß Humorist war, sondern Realist. Der beschrieb, was er sah: kleine (vor allem die!) und manchmal große Leute seiner Stadt. Man erfuhr bei Sommer über München, was man, sagen wir, bei Simenon über Paris erfuhr. Darüber schrieb Erich Kuby: »Sommers Popularität stützt sich auf den Beifall all derer, welche die von Blasius haarscharf fotografierte Wirklichkeit nie selber erlebt haben und deshalb für komisch halten, was so komisch ist wie ein Schlachthaus.«Das ist richtig und falsch. Richtig, weil der Münchner Alltag in Hinterhöfen, Stiegenhäusern und kleinen Vorstadtwohnungen schon zu Sommers Zeit tatsächlich für viele etwas Exotisches hatte. (Nur: Heute schreibt nicht mal mehr einer drüber, jedenfalls keiner von Rang.)Und falsch war Kubys Satz, weil Sommer keineswegs nur Komisches schrieb, sondern oft Stilles, Melancholisches, Trauriges, ja, weil in seinen Texten – wie in der Wirklichkeit auch – das Komische traurig zugleich war. Und wenn wir schon vom Münchnerischen reden, möchte man bei der Gelegenheit darauf hinweisen, dass genau dies etwas Münchnerisches ist: nicht das Grelle, nicht das lauthals Komische, sondern eine gewisse Dezenz und ein Hang zu Melancholie und Sentimentalität.Aber wer will das noch wissen?