Kürzlich las ich, die Firma Amazon führe ein neues Abrechnungsmodell für ihre Autoren ein: Wo ein Verfasser bisher, wie nach alter Väter Sitte, pro verkauftes Buch seinen Anteil am Preis bekam, erhält er ihn künftig nur noch für jede tatsächlich gelesene Seite.
Nun ist, wie jeder weiß, bei einem gedruckten Buch kaum festzustellen, welche Seite jemand tatsächlich gelesen hat und welche nicht; dazu bräuchte man Überwachungspersonal, Kameras, Verhöre. Bei einem elektronischen Buch aber ist nichts leichter als das: Liest jemand einen Text auf einem Kindle, weiß hinterher oft die Firma Amazon mehr über ihn als er über die im Text dargelegten Sachverhalte. Denn auf ihren Computern wird gespeichert, zu welcher Tageszeit jemand las, wie lange er auf einer Seite verweilte, welche Sätze er sich markierte, wie viele Stunden er insgesamt benötigte und an welcher Stelle er das Buch vielleicht für immer zur Seite legte.
Würde ein Geheimdienst die Menschen auf diese Weise überwachen, wären die Leute von Sinnen vor Ärger. Bei Amazon und überhaupt bei allen Firmen, die ihre Texte auf Elektrobüchern anbieten, bezahlen sie dafür.
Nun gilt die erwähnte Neuregelung keineswegs für alle Bücher auf dem Kindle, sondern nur für einen bestimmten Teil. Aber lassen wir das mal beiseite, stellen wir uns einfach vor, dieses Prinzip würde künftig für die gesamte Literatur gelten: Ein Autor bekommt Geld nur noch für wirklich gelesene Seiten seines Werkes. Dann stünde ja wohl als Erstes die Frage im Raum, ob der Leser nach wie vor für das ganze Buch bezahlt und also der Verlag oder der Buchhändler das Geld fürs Nichtgelesene kassiert. Oder ob das Buch wirklich billiger würde, wenn man nur die ersten zwanzig Seiten konsumiert.
Gehen wir einfach mal von diesem zweiten Fall aus. Natürlich würden dann Autoren belohnt, die einen süffigen Stil haben, die wissen, wie man Spannung erzeugt, und deren Sätzen man folgen möchte bis ans Ende aller Tage. Das werden sie allerdings auch heute schon. Wichtiger ist vielleicht, dass bestimmte Autoren bestraft werden, solche nämlich, die etwas komplizierter schreiben, deren Geschichte eine bestimmte Anlaufzeit benötigt, bis sich ihr Sog entfaltet, die etwas ausprobieren, was dem Leser neu sein könnte.
Aber wäre das nicht richtig so? Sollte nicht der Leser als Kunde im Vordergrund stehen, der nicht für etwas bezahlen sollte, was ihm nicht gefiel?
Versuchen wir es mal mit einem Vergleich: Was würde man sagen, wenn der Kunde bei »Starbucks« einen Caramel Macchiato grande für 4,65 Euro nach einigen Schlucken der jungen Frau, die daran etwa zwei Minuten gearbeitet hat, wiedergäbe und sagte: »Ich bekomme 3,65 Euro zurück, das war nichts.«
Man würde vielleicht sagen: Sie hätten eben besser einen Caramel Macchiato tall bestellt, der kostet bloß schlappe 4,15 Euro und ist kleiner. (Nur mal zum Vergleich: Dostojewskis Schuld und Sühne – ein Roman von 800 Seiten, der ihn fast anderthalb Jahre Arbeit und beinahe auch die Existenz kostete – ist als gedruckte Ausgabe für 9,95 Euro und als Kindle Edition gratis erhältlich.)
Nebenbei gesagt versucht das deutsche Fernsehen schon lange, sein Programm an den Ansprüchen der Zuschauer auszurichten. Es werden Quoten gemessen, es wird untersucht, wann Leute den Apparat einschalten und, vor allem, in welcher Minute sie ihn wieder ausmachen. Und bei jedem Film und jeder Serie reden viele Leute mit, die zu wissen glauben, wie man das Publikum noch besser erreicht. Ziemlich genau seit das so ist, habe ich peu à peu aufgehört, Fernsehen zu schauen: Ich fand es einfach nicht mehr besonders interessant.
Im Übrigen ist gegen elektronische Lesegeräte nichts zu sagen, außer dass man als Leser mit einem gedruckten Buch immer wirklich sicher sein kann: Wir zwei sind ganz allein …
Illustration: Dirk Schmidt