Neulich in der Apotheken Umschau: Bisher habe man gedacht, las ich dort, das Kinn erfülle bestimmte Zwecke, zum Beispiel unterstütze es das Kauen. Das stimme aber nicht, sei an der Universität Iowa herausgefunden worden, denn das Kinn verstärke weder die Kräfte beim Kauen, noch helfe es bei anderen Tätigkeiten, »anscheinend habe es überhaupt keine Aufgabe«. Das ist natürlich ein Hammer! Weit oben am Körper, wo jeder hinguckt: ein sinnloses Körperteil. Bisher dachte man, nur weiter unten befinde sich Funktionsloses: der Blinddarm. Aber das Kinn?!
»Großmutter, warum hast du so ein großes Kinn?« – »Oh, also, ich weiß nicht, frag mich was anderes!« – »Großmutter, warum hast du die Apotheken Umschau dabei?« – »Die habe ich mitgenommen, als ich meine Magentabletten geholt habe, ich lese sie immer nach dem Fressen, äh, Essen, also frag jetzt endlich sofort was anderes!« – »Großmutter, ich habe vergessen, was ich fragen wollte …« – »Frag jetzt, Rotzgöre, damit wir hier vorankommen!«
Übrigens hat der große böse Wolf kein Kinn, kein einziges Tier hat ein Kinn, von Ausnahmen, die mir jetzt nicht einfallen, mal abgesehen. Warum hat also der Mensch eines, wenn es doch sinnlos ist?
Dazu ein Blick in Daniel McNeills Buch Das Gesicht, in welchem die Entwicklung desselben mit dem Wachstum des Gehirns erklärt wird: Der homo habilis nämlich (der erste konsequente Zweibeiner, nicht mehr auf Bäumen lebend und Waffen, scharfkantige Steinsplitter zum Beispiel, benutzend) entwickelte ein, verglichen mit dem Australopithecus, um fünfzig Prozent größeres Gehirn, was nicht ohne Veränderung des Kopfes vonstattenging; diese neue Gehirnmasse brauchte Platz. Also wurden die Stirn höher und die Zähne kleiner, weil sie als Waffen nun weniger bedeutsam waren. Die Nase drängte vor. Das Gesicht verlor alles Schnauzenhafte.
Und es entstand das Kinn, das zweifellos der Abrundung des Gesichtes dient. Es wäre ohne Kinn konturlos und würde mit dem Hals verschmelzen. Es gibt Leute, die glauben, so McNeill, »dass es einfach hervortrat, als sich die Schnauze zurückentwickelte, so wie Inseln entstehen, wenn sich während der Eiszeit der Meeresspiegel senkt«, ein knochiges Schnauzenrelikt, das an Zeiten erinnert, in denen wir nach Dingen schnappten und an ihnen nagten.
Übrigens hat Charles Darwin herausgefunden, dass der Blinddarm, das überflüssige Organ schlechthin, eine größere Variationsbreite an Formen aufweist als andere, nützliche Organe - und beim Kinn ist es genauso! Es springt hervor oder flieht, ist kurz, rund, spitz, hat ein Grübchen und schafft so eine große Vielfalt von Gesichtern.
Übrigens wächst es unter Testosteroneinfluss, dopende Sportler verraten sich manchmal durch Kinnwachstum. Weshalb »der Hamburger Psychologe Dr. Elmar Basse« auf bild.de sagt: »Ein markantes Kinn und kräftige Wangenknochen wirken dominant und aggressiv … Das törnt Frauen an, gleichzeitig haben sie aber auch Angst vor dieser archaischen Wildheit.« Ja, die Frauen … Vielleicht hätten nicht so viele von uns diese archaisch wilden Kinne (was für ein Plural!), gäbe es die Frauen nicht?!
Übrigens darf als erwiesen gelten, dass kinnschwache Politiker es schwerer haben bei Wahlen, man konnte das in der Fachzeitschrift Science vor einigen Jahren nachlesen, und es ist vielleicht nicht sehr verwegen zu behaupten, dass Gerhard Schröder ohne dieses Wahnsinnskinn niemals Bundeskanzler geworden wäre, ja, dass er die Hartz-Reformen fast ganz mit dem Kinn durchdrückte.
Sodass also das Kinn nur sehr oberflächlich betrachtet ohne Aufgabe ist, in Wahrheit dient es der sexuellen und politischen Selektion, seine Durchschnittsgröße nimmt seit zweihundert Generationen sogar zu! Es ist, um noch mal auf McNeill zurückzukommen, nichts anderes als das Geweih des modernen Mannes.
Illustration: Dirk Schmidt