Den Pflanzenforscher stellt man sich als Menschen mit Tropenhelm, taschenreicher Weste und Botanisiertrommel vor, auf schmalen Pfaden den Urwald durchwandernd, hier und da ein Blümelein unter die Lupe nehmend, einen Pilz betrachtend oder ein Blatt pflückend. Umso überraschender ist, dass eine der 2000 bis dahin unbekannten Pflanzen, die im vergangenen Jahr entdeckt wurden, an keinem geringeren Ort als Facebook aufgefunden wurde. Dort nahm nämlich ein Fachmann für Sonnentau-Gewächse Fotos unter die Lupe, die ein Orchideensammler im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais gemacht hatte – und was sah er, als Beifang des Orchideenspezialisten? Eine riesige, bisher nicht gekannte fleischfressende Pflanze, anderthalb Meter hoch, größer als die meisten ihrer Art.
Lassen wir mal beiseite, was diese Tatsache für das Berufsbild des Botanikers bedeutet: dass er nun, bisher an romantischen Originalschauplätzen tätig, seine Tage vor dem Computer verbringt. Wird bald auch der Archäologe, der doch seinen Beruf wählte, weil er unter südlicher Sonne gemeinsam mit ausgewählten Archäologinnen seiner Tätigkeit nachgehen wollte, nur noch im trüben Schein von Bürolampen und Bildschirmen arbeiten?
Doch das sind nicht die Fragen, um die es hier geht.
Denn die Nachricht vom Riesensonnentau entnehme ich dem ersten Bericht über die Lage der Pflanzen auf der Erde, veröffentlicht vom Königlichen Botanischen Garten im Südwesten Londons, gemeinhin bekannt als Kew Gardens. In diesem Report wird der Sorge über das Aussterben zahlreicher Bäume, Blumen und Gräser Ausdruck gegeben, aber das ist nicht neu, alles ist ja immerzu bedroht und gefährdet, die Tiere, das Klima, der Mensch, die Freiheit, sogar die Existenz der SPD und der Haarwuchs von Männern.
Aber Kathy Willis, die wissenschaftliche Direktorin in Kew, sagt dazu einen bemerkenswerten Satz: Pflanzen hätten den Tieren gegenüber einen entscheidenden Nachteil: »Sie sind nicht niedlich, und was wir unseren Kindern über sie beibringen, tun wir in wirklich langweiliger Art und Weise.«
Man könnte sagen: Tragen daran nicht die Pflanzen selbst schuld? Sind sie nicht ein bisschen fad, unbeweglich, lautlos? Ist es ein Wunder, dass unsere Märchen, Sagen, Comics, Romane, Musicals und Filme voll sind von allerwitzigsten, überaus romantischen, aber bisweilen auch bedrohlichen Charakteren aus der Tierwelt, von Bambi über Micky Maus zum bösen Wolf? Und dass gleichzeitig die Pflanzen es maximal zum Haselstrauch in Aschenputtel gebracht haben, auch noch zu ein paar denkenden Bäumen im Herrn der Ringe und zu Groot, einer Art fühlendem Baum im Disney-Epos Guardians of the Galaxy, der aber nichts sagen kann außer: »Ich bin Groot.«
Andererseits müsste darin gerade die Herausforderung liegen: See-Elefanten sind auch nicht von Haus aus die allerreizvollsten Wesen, und doch ist der Seele-Fant (»Öch bön nöcht froh«) in Max Kruses Urmel aus dem Eis eines der großartigsten Geschöpfe, die wir kennen. Das Problem ist ja immer die Sesshaftigkeit der Pflanzen, aber wer je Two and a Half Men gesehen hat, der weiß, dass sich die Menschen da auch kaum rühren. Wie wäre es mit einer Sitcom im Gemüsebeet? Oder: Ein seltsames Paar, einst mit Walter Matthau und Jack Lemmon verfilmt, nun mit Kartoffel und Kürbis, die können sich auch nicht leiden – aber was ist, wenn sie miteinander auskommen müssen? Dick und Doof mit einem Buchsbaum und einer Trauerweide als Partner, so was ist im modernen, animierten Film kein Problem mehr! Roland Emmerich vernichtet regelmäßig ganze Metropolen, da sollen nicht zwei Bäumchen Helden eines heiteren Films sein können?
Und ich freue mich jetzt schon auf einen James Bond, in dem die Welt von fleischfressenden Pflanzen bedroht wird, die urplötzlich aus Facebook-Seiten heraus nach den Nutzern schnappen und sie in den Computer zerren.
Illustration: Dirk Schmidt