1929

Mit der Lust am Untergang betrachten wir heute die Bilder der Wirtschaftskrise von 1929.

Am Horizont der aktuellen Finanzkrise steht eine Jahreszahl. 1929: Kaum ein Zeitungsartikel oder eine Bilderserie der Nachrichtenportale, die den Vergleich nicht bemühen würden.

Neben den verzweifelten Börsianern von heute sind derzeit ständig die berühmten schwarz-weißen Menschenaufläufe vor Bankhäusern zu sehen, die Männer mit ihren Hüten, die Frauen mit straff gezogenen Scheiteln und geblümten Kostümen. Die Botschaft dieser Parallelsetzung ist eindeutig: Es könnte wieder so kommen wie damals. Ob sich die beiden ökonomischen Konstellationen wirklich ähneln, kann im Augenblick kein Wirtschaftshistoriker sagen – allein schon deshalb nicht, weil sich die tatsächliche Bedeutung der New Yorker Börsenpanik vom Oktober 1929 erst rückblickend, nach der jahrelang anhaltenden wirtschaftlichen Depression, bestimmen ließ. Die aktuelle Finanzkrise ist in ihrer Drastik erst seit zwei, drei Wochen zu spüren, doch dass sie sofort mit der größten Wirtschaftskatastrophe in der Geschichte des Kapitalismus in Zusammenhang gebracht wird, erscheint als aufschlussreicher Reflex.

Der Griff zu den achtzig Jahre alten Fotos aus New York oder Berlin entspringt auf den ersten Blick einer journalistischen Lust an der Zuspitzung. Noch finden sich die Betroffenen der gegenwärtigen Krise ja allein im Milieu der Finanzwelt; noch haben die allermeisten Menschen nicht am eigenen Leib Entbehrungen erfahren: Der ständige Verweis auf Armenspeisungen und kollektive Obdachlosigkeit, auf endlose Warteschlangen vor Suppenküchen und Kleiderkammern nimmt daher eine übermäßige Dramatisierung vor, liebäugelt mit einem epochalen Desaster, mit dem die jetzige Situation nichts zu tun hat. Die Fotografien von 1929 bebildern den Jargon der Apokalypse, der in Teilen der Berichterstattung angeschlagen wird.

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Was sind die Gründe für dieses vorschnelle Spiel der Assoziationen? Vielleicht bietet die gegenwärtige Lage jenen Kreisen Gelegenheit zur Dramatisierung, die mit dem eher ruhigen, temperamentarmen Gang der Weltgeschichte der letzten zwanzig Jahre ohnehin gehadert haben. Sie sehnen sich nach historischen Ereignissen und Zäsuren und sie nehmen die Finanzkrise zum willkommenen Anlass, um eine solche Zäsur heraufzubeschwören.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Welt hatte nicht aufgehört zu existieren.)

Aus den so plakativ gesetzten Bildern von 1929 scheint fast so etwas wie der Wunsch zu sprechen, es möge endlich wieder einmal etwas wahrhaft Historisches passieren in unserer so belanglosen Zeit, eine Eskalation, die den trägen Lauf der Dinge ein wenig aufwühlt.

Aus diesem Wunsch heraus werden geschichtliche Kontinuitäten behauptet, obwohl sich die Zeiten nicht miteinander vergleichen lassen. Das zeigt allein die Kategorie der Masse: Dass die Fotografien von 1929 stets aufgewühlte Menschenmengen zeigen, liegt nicht in erster Linie an der verheerenden Wucht des Börsencrashs, sondern an der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit, an der leichten Mobilisierbarkeit der Massen. Die Panik der Anleger heute – und wäre sie auch irgendwann so berechtigt wie die vor achtzig Jahren – würde zweifellos ganz andere Bilder hervorbringen. Es wären eher Bilder der Vereinzelung; verzweifelte Menschen in ihren Büros, vor ihrem Computer.

Und so vehement der Bezug auf 1929 den Ernst der Lage betonen soll: Ist die stärkste Aussage, die die Fotos transportieren, nicht ohnehin sogar eine lindernde? Denn die Bilder aus der Vergangenheit leisten heute vor allem eines: Sie machen selbst das Äußerste einer wirtschaftlichen Krise vorstellbar.

Wenn es in einem der raunenden Artikel derzeit heißt, »dass die Welt gerade den Abgrund ganz nah erahnt«, dann beweist die auf derselben Zeitungsseite abgebildete Menschenmasse von damals, dass das Leben sogar nach dem Sturz in diesen Abgrund weiterging. Am Rand dieser Bilder sind offene Geschäfte zu sehen, ein Omnibus fährt die Straße entlang; die Welt hatte nicht aufgehört zu existieren. 1929 bietet in dieser Hinsicht nicht nur ein historisches Schreckensszenario, sondern wirkt auch wie ein Angstbändiger. Es stellt Bilder für das Undenkbare zur Verfügung.