Fernsehserie

Zu den vielen Dingen, die Menschen unter dreißig nicht mehr kennen, gehört die ursprüngliche Macht der Fernsehserie. Kann man heute noch erklären, wie wichtig es einmal war, zu bestimmten Zeiten vor dem Fernseher zu sitzen, den immer gleichen Figuren dabei zuzuschauen, wie sie die immer gleichen Dinge taten, und am nächsten Tag mit Gott und der Welt darüber zu reden? Wohl kaum. Man müsste erstens eine Zeit mit nur zwei oder drei TV-Sendern heraufbeschwören, in der man unendlich dankbar war, wenn wenigstens auf einem Kanal etwas Interessantes lief. Und zweitens ein großes Gefühl der Flüchtigkeit: Die Szene, die man gerade im Fernsehen gesehen hatte, war vorbei und verloren. Sie wurde am nächsten Tag nicht wiederholt. Bis zum Ende der Siebzigerjahre gab es keine erschwinglichen Geräte, die Fernsehbilder aufzeichnen konnten, auch Kaufvideos und DVDs existierten nicht. Und an Filmclips zum Herunterladen dachte sowieso noch keiner.Man war also, ob man wollte oder nicht, vor den Fernsehapparat gefesselt. Oft wollte man eher nicht. Aber allein das Bewusstsein, dass der Rest der Menschheit genauso gefesselt war, dass man wieder der Einzige sein würde, der am nächsten Tag nicht mitreden könnte, ließ einen Woche für Woche ausharren – ob beim Denver Clan, bei Ein Colt für alle Fälle oder natürlich bei Dallas. Die offene Frage aus dem März 1980 zum Beispiel, wer auf die Dallas-Figur »J. R.« geschossen habe, war leicht als Marketing-Gag des Senders CBS zu durchschauen – aber das änderte überhaupt nichts daran, dass die Welt wie wild über diese Frage diskutierte, den ganzen Sommer lang, bis Dallas weiterging und die Sache endlich aufgeklärt wurde. Das türkische Parlament, so erzählt die Legende, ließ damals sogar eine Sitzung ausfallen, um nur ja nichts zu verpassen. Und diese Parlamentarier waren auch nicht verrückter als die von heute.Seitdem hat die Fernsehserie kontinuierlich an Macht verloren. Bald waren nur noch die Videorekorder vor den Fernsehapparat gefesselt, und alles, was man nicht wirklich wissen musste, stellte man ins Regal und überspielte es sehr viel später einfach ungesehen. Die Menschen wurden freier – aber die Fernsehserien, die nicht mehr gar so sehr unter nationaler Beobachtung standen, wurden es auch. Seinfeld erfand ein Format, das im Grunde von gar nichts handelte; Sex And The City brach mit erotischen Tabus; Mafiakiller durften nun Hauptfiguren werden (The Sopranos), Totengräber ebenso (Six Feet Under). Und schließlich lösten Knaller wie 24, Alias und Lost alle Erzählstrukturen, Dramaturgien, Figurenregeln und Sicherheiten, mit denen uns das Fernsehen bisher noch getröstet hatte, einfach auf. Ein paradoxes Phänomen: Als Kunstform ist die TV-Serie vielleicht so anspruchsvoll und gewagt wie nie zuvor – aber gleichzeitig findet sie im Fernsehen kaum noch statt.Okay, das ist jetzt übertrieben. Zwar verlieren in den USA im Jahr 2007 alle Serien gerade quer durch die Bank an Zuschauern, richtig dramatisch ist das und ein Vorzeichen dafür, was kommen wird; aber es gibt sie überall noch im Programm, und es sitzen sicher auch noch Menschen davor. Ich kenne diese Menschen nur nicht. Alle Menschen, die ich kenne, schauen sich Fernsehserien nur noch in Form von DVD-Paketen an, die ganze Staffeln auf einmal enthalten. Sie sind sogar richtig besessen davon – viel mehr als beispielsweise von Kinofilmen. Und das passiert jetzt völlig ungleichzeitig. Milan hat gerade Alias durch, Michael fängt gerade damit an. Der hat wiederum fünf Staffeln Six Feet Under hinter sich, die bei Milan noch ungeöffnet im Schrank stehen, und so fort. So kann man schlecht reden. Jeder schaut für sich allein und hat Angst, seinen Freunden aus Versehen den Schluss zu verraten. Und gleichzeitig ist die Fernsehserie nun das, was sie in ihrem Seriencharakter gerade nie war, nämlich eine höchstverdichtete Form von Popkonsum. Die Produzenten und Regisseure übertreffen sich darin, immer mehr Irrsinn in eine 45-Minuten-Folge zu pressen, und wir schauen dann auch noch sechs davon an einem Abend an. Das ist intensiv, keine Frage – aber zum Fernsehen, wie wir es noch kannten, führt dann wirklich kein Weg mehr zurück.