Meinungsfreiheit

Das nächste Mal kommt bestimmt, und nach all den Aufrufen und Appellen an unsere Zivilcourage ist klar, was wir dann als Vertreter des Abendlands zu tun haben. Sollte wieder ein Humorist auf die Idee kommen, eine Karikatur des Propheten Mohammed zu zeichnen, drucken wir sie selbstverständlich in der Zeitung ab und kaufen gleich selbst zehn Exemplare. Sollte ein Theatermensch eine Szene entwerfen, in der Mohammed, unaussprechliche Sexspielzeuge und sehr viel Blut vorkommen, führen wir das Stück selbstverständlich auf, schreiben glänzende Kritiken und lassen uns jeden Abend unter Polizeischutz auf unseren Platz geleiten. Und sollte ein Papst mal wieder das Bedürfnis verspüren, seine Ausfälle gegen die Konkurrenz als »Zitat« oder »theologische Debatte« zu tarnen, werfen wir uns als menschliche Schutzschilde auf den Petersplatz und bleiben dort mindestens zwei Wochen lang liegen. Das schulden wir der Tradition der Aufklärung, die uns bis heute erleuchtet, und dem Prinzip Meinungsfreiheit, für das unsere Ahnen wie die Löwen gekämpft haben.Weil die Lage aber gerade so schön ruhig ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, einmal vorbeugend etwas loszuwerden: Ich bin nächstes Mal nicht mehr dabei. Ihr freiheitsliebenden Künstler und brillanten Provokateure und kirchlichen Oberhäupter, macht euren Scheiß bitte allein. Wenn ihr wirklich einen Krieg der Kulturen wollt, streicht mich jetzt von der Liste der Teilnehmer. Ich bin nämlich zu dem Schluss gekommen, dass Meinungsfreiheit durchaus auch die Freiheit ist, manchmal den Mund zu halten. Und etwas – selbst für den Fall, dass es absolut wahr sein sollte – nicht zu sagen. Ich habe zum Beispiel einen Kollegen, der stinkt. Aus Gründen, die niemand kennt, läuft er oft in Klamotten herum, die viel zu lange nicht gewaschen wurden. Ich habe ihn nie darauf angesprochen. Ich habe auch bis heute nie mit anderen darüber gesprochen. Und alle anderen im Büro machen es genauso. Warum? Weil es sich nicht gut anfühlen würde. Weil wir jemandem, der es sowieso schon nicht leicht hat, damit noch mehr zusetzen würden. Weil es suggerieren würde, dass wir wissen, wie Hygiene zu funktionieren habe – er aber nicht.Aber ist es nicht genauso? Wäre ihm im Zusammenleben der Weltgemeinschaft nicht geholfen, wenn er seine Waschgewohnheiten an die Standards der westlichen Zivilisation anpasste? Vermutlich schon. Die Frage ist aber eher, was es mit uns machen würde, ihn zu kritisieren. Es hat schon seinen Grund, warum englische Gentlemen generell darauf verzichten, das Volk zu beschimpfen, obwohl sie die Freiheit dazu hätten, und warum Superreiche nur selten von ihrem Recht Gebrauch machen, uns Normalmenschen als »arm« und »erfolglos« zu bezeichnen – obwohl wir es, gemessen an ihren Standards, zweifellos sind. Neben der mutig ausgesprochenen Wahrheit, die ihren Sprecher größer und die Welt zu einem besseren Ort macht, gibt es offenbar auch jene, die ihren Sprecher zum geistigen Zwerg degradiert, während er noch das Gefühl hat, im Dienst der Aufklärung zu stehen. Das ist die andere Seite der Meinungsfreiheit. Ich jedenfalls strebe lieber Nietzsches »reife Freiheit des Geistes« an, die nichts anderes als »Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens« ist. Immer wenn ich den Drang verspüre, Klartext über Mohammed oder über meinen Kollegen zu reden, was ich könnte und dürfte, hält mich die Zucht des Herzens zurück – was zudem den schönen Vorteil hat, dass ich von Muslimen und Kollegen in Ruhe gelassen werde. »Feigling!«, höre ich da ewig Mutige rufen, denen die Meinungsfreiheit grundsätzlich am seidenen Faden der eigenen Entschlossenheit hängt. Du willst nur deine Ruhe, nur deshalb lässt du ihn weiter stinken! Ganz falsch. Ich glaube nur eben nicht, dass es möglich ist, den Gestank auf Erden auszurotten, dass man die Welt mit Besatzungsarmeen und schnellen Eingreiftruppen wirklich sauber kriegt, während im eigenen Hinterhof noch die übelsten Dinge vor sich hin rotten. Also würde ich mich gern darauf beschränken, ein bisschen unter den eigenen Achseln zu schrubben und ein wenig vor der eigenen Haustür zu kehren – und den Rest voller Selbstbeherrschung zu ertragen.