Strom

Seit dem großen Stromausfall vom 4. November, verursacht durch das kurzzeitige Abschalten zweier Hochspannungsleitungen durch den Betreiber Eon, wird in Deutschland über den Zustand der Stromversorgung gestritten. Bemerkenswert an dieser Auseinandersetzung ist eines: dass im Augenblick der Krise endgültig deutlich wird, wie massiv sich die Wahrnehmung von Strom seit der Liberalisierung des Energierechts 1998, dem Ende des staatlichen Monopols, verändert hat. Jahrzehntelang erschien Strom als unhinterfragtes Gut, dessen Bewegungen und Unterbrechungen man nicht weiter folgte. Strom floss einfach, zentral reguliert; wer genau ihn herstellte, durch welche Leitungen er lief, spielte keine Rolle, und im Falle einer Panne ging es allein darum, den Betrieb möglichst rasch zu normalisieren.

Mit der Aufhebung des Staatsmonopols aber verwandelte sich eine selbstverständliche Gegebenheit in eine vielfältig präsentierte Ware. Und gerade dieser Bruch wird nun sichtbar. Denn was steht seit zwei Wochen zur Disposition? Genau jene Kanäle, genau jene Verteilersysteme und ihre Verantwortlichen, die so lange im Unsichtbaren blieben, wie es keinen freien Markt für Elektrizität gab. Nun haben sich Politiker zu Wort gemeldet, die von Eon genaue Aufklärung über den Zustand der Stromleitungen des Konzerns verlangen. Konkurrenzunternehmen wie RWE wiederum sind nach dem Zwischenfall dankbar mit einem Notversorgungsprogramm eingesprungen und haben damit die bessere Funktionsfähigkeit ihres Energiemanagements zum Ausdruck gebracht. Schließlich wurde von etlichen Seiten Kritik laut, dass die privaten Stromkonzerne nicht genügend Geld in Wartung und Ausbau der Leitungen investieren und aus Profitinteresse von vornherein eine zu hohe Menge Strom in die Leitungen einspeisen würden, wohingegen im Zeitalter des Monopols siebzig Prozent der Höchstauslastung als verbindliche Grenze galt.

All diese Einlassungen zeigen, wie sehr Strom zum umkämpften Produkt geworden ist. Aus den diskret operierenden Staatsunternehmen, die seit der Nachkriegszeit die exklusive Konzession für ihr Bundesland innehatten, gingen in den letzten acht Jahren verschiedene Marken hervor, die jedes Kind aus der Werbung kennt. Elektrizität bekam im Konkurrenzkampf der Privatanbieter plötzlich Farbe und Gestalt, wurde gelb wie bei Yello (der Strommarke von EnBW) oder wechselte den Aggregatszustand wie in der Wasser-kampagne von Eon. Grund dieser Gestaltwerdung des Stroms war schlichtweg die kommerzielle Notwendigkeit für die Unternehmen, das eigentlich Undarstellbare darstellbar zu machen, um das eigene Produkt von den anderen zu unterscheiden.

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Das neue Bild vom Strom wird vor allem deutlich, wenn man die Berichterstattung über den Zwischenfall vom 4. November mit der über frühere Pannen ähnlicher Größenordnung vergleicht. In den letzten Jahrzehnten kam es in Deutschland immer wieder zu flächendeckenden Stromausfällen (im Raum München etwa 1976 und 1992, im Raum Berlin 1992 und 1995), und in den alten Zeitungsmeldungen finden sich zwar stets dieselben atmosphärischen Reportagen über den Stillstand des städtischen Lebens oder Berichte über die äußere Ursache der Panne wie Blitzeinschläge oder Vögel auf Leitungen – eine Frage wird allerdings mit verlässlicher Konsequenz ausgespart: wer genau für die reibungslose Stromversorgung verantwortlich ist. Bis in die späten Neunzigerjahre hinein hatte Strom keinen Urheber; die Berichterstattung über Zwischenfälle war daher auch nicht wie heute von Schuldzuweisungen bestimmt, sondern ähnelte dem Protokoll eines schicksalhaften Ereignisses, einer Naturkatastrophe. Im Zentrum dieser Protokolle stand immer wieder ein Wort, das aus der jetzigen Berichterstattung gelöscht ist: der »Kurzschluss« als Auslöser der Panne. In diesem Begriff zeichnet sich die gan-ze Ortlosigkeit des traditionellen Strombildes ab: ein plötzliches Zischen der Leitungen, von keinem Menschen verursacht oder erwartet. Seit der Strom gelb ist, gibt es keinen »Kurzschluss« mehr, sondern nur noch Missmanagement.