An den jüngsten Debatten um den Ablauf des RAF-Attentats auf Siegfried Buback fällt auf, dass sich die Perspektive auf die terroristische Tat gewandelt hat. In den vergangenen dreißig Jahren bestand von keiner Seite Interesse an detaillierten persönlichen Zuschreibungen der RAF-Anschläge. Wer aus dem Kollektiv tatsächlich auf die Opfer geschossen, wer nur den Fluchtwagen gesteuert oder ein Entführungsversteck bewacht hatte – diese Fragen spielten in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Diese Verschleierung der individuellen Zuordnung stand zunächst im Interesse der Terroristen selbst. Bereits im Gründungsmanifest der RAF, dem »Konzept Stadtguerilla« vom April 1971, gehörte die unauflösbare Kollektivität der Gruppe zu den wichtigsten Voraussetzungen. Sie zeigte sich anschaulich in den Kommentaren zu den eigenen Taten in den »Bekennerschreiben«, in denen niemals Einzelpersonen unterschrieben, sondern immer ein »Kommando«, benannt nach umgekommenen Mitgliedern der Gruppe. Welche Bedeutung die penibel eingehaltene Form dieser Schreiben für die RAF hatte, lässt sich etwa daran erkennen, dass der inhaftierte Baader der sich formierenden zweiten Generation Hinweise zukommen ließ, wie künftige Bekennerschreiben gestaltet sein mussten. »unterzeichnet natürlich kommando e.t.c. raf«, heißt es in einem solchen Kassiber einmal; die kollektive Autorschaft ist unerlässliches Instrument der terroristischen Aktion. Ebenso konsequent wurde dieses Prinzip der Kollektivität aber auch in den Gerichtsprozessen gegen RAF-Mitglieder angewandt. Dass die individuelle Gewichtung der Taten verschleiert blieb, legitimierte die Justiz, sich in ihren Urteilen zumeist auf die Kategorie des »gemeinschaftlich begangenen Mordes« zu stützen. An der Planung und Durchführung des Anschlags, in welcher Funktion auch immer, beteiligt gewesen zu sein, reichte aus, um wegen Mordes verurteilt zu werden – auch ohne individuelles Geständnis. In den hitzigsten Jahren der Bedrohung durch die RAF war diese juristische Praxis auch ein willkommener Anlass für die Gerichte, nicht jede Tat bis in die letzte Verästelung nachvollziehen zu müssen. Die identifizierten Mitglieder der Gruppe sollten möglichst rasch und langfristig hinter Gitter gelangen.Jetzt, dreißig Jahre nach dem »Deutschen Herbst« und knapp zehn Jahre nach der Auflösung der RAF, ist der Blick auf die damaligen Ereignisse in eine neue Phase getreten. Was in den letzten Wochen geschehen ist, könnte man als das zweite Auseinanderfallen des Kollektivs bezeichnen: nach dem formellen nun das symbolische, die nachträgliche Entwirrung der Tathergänge in der Öffentlichkeit. Was aber sind die Gründe für diese verspätete Rekonstruktion? Den Angehörigen der Opfer wäre es immer schon eine Erleichterung gewesen, wenn sie hätten erfahren können, wer genau die tödlichen Schüsse abgegeben hat. Der entscheidende Impuls jedoch, die Ereignisse ausgerechnet jetzt noch mal einer sorgfältigeren Prüfung zu unterziehen, geht von der Auseinandersetzung um die vorzeitige Haftentlassung Christian Klars aus. Einen einzelnen Terroristen begnadigen heißt, ihn nicht mehr als Teil des Kollektivs, sondern als Einzelperson wahrzunehmen; Jahrzehnte nach der Verurteilung muss präzise aufgelistet und bewertet werden, ob die begangenen Verbrechen eine Begnadigung in Frage kommen lassen. Wie es Michael Buback kürzlich formulierte: »Die individuelle Begnadigung setzt für mich voraus, dass auch der individuelle Tatbeitrag bekannt ist.« Und genau aus diesem Grund hat Buback auch den Schritt in die Öffentlichkeit gemacht und sich für Klar eingesetzt, nachdem er erfahren hatte, dass dieser womöglich nicht an der Ermordung seines Vaters beteiligt war.Unabhängig davon, was das neu aufgenommene Verfahren zur genauen Aufklärung des Attentats ermitteln wird: Die Diskussion um die individuelle Zuordnung der Taten ist ein Effekt jener Historisierung der RAF, die sich nun in ihrer letzten Phase befindet. Die einst wortreich begründete Differenz von Mord und politischem Attentat hat sich endgültig aufgelöst. Aus dem eisernen Kollektiv ist eine lose Ansammlung von Verbrechern geworden.