In schlaflosen Nächten vor einer Schulaufgabe oder auf Autofahrten in die Sommerferien ging ich oft wie zur Beruhigung die vertraute Zahlenfolge durch, eine fast lückenlose Reihe von Erfolgen: WM-Zweiter 1966, WM-Dritter 1970, Europameister 1972, Weltmeister 1974, EM-Zweiter 76, Europameister 80, WM-Zweiter 82 und 86, EM-Halbfinalist 88, Weltmeister 90, EM-Zweiter 92, Europameister 96. Mir waren diese Daten, die Platzierungen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei großen Turnieren, so geläufig, als gehörten sie zu meinem eigenen Leben, als seien sie in meinem Pass vermerkt. Dreißig Jahre, die eine engmaschige Kette bildeten, mit den ungeraden als bloßen Zwischengliedern, den geraden aber als funkelnden Steinen, abwechselnd einem kleineren für die Europa- und einem großen für die Weltmeisterschaft. Es war eine Ära, die Kontinuität verhieß, Bruchlosigkeit, und die auch in den Momenten des Misserfolges – dem Wembley-Tor 66, dem Jahrhundertspiel gegen Italien 70, der Schmach von Cordoba 78 – geschichtsträchtig blieb, Stoff für die »WM-Klassiker« lieferte, die auch vor dem jetzigen Turnier wieder in etlichen Fernsehsendern gezeigt werden.Und stimmt nicht auch die Erinnerung an das allererste selbst erlebte Spiel genau mit einem bestimmten Glied dieser Kette überein? Von den frühen Turnieren kannte ich nur die immergleichen Zusammenfassungen entscheidender Szenen. Doch irgendwo im Lauf dieser Abfolge lag plötzlich der Moment, als ich zum ersten Mal live am Geschehen beteiligt war, ein Spiel, von dem mir nur noch einzelne Bilder vor Augen sind, diese aber merkwürdig klar, für alle Zeiten festgehalten (das EM-Finale 1976, im Schlafanzug, auf dem Sofa neben dem Vater; Hoeneß, der seinen Elfmeter weit über das Tor schoss, und dann der Tscheche Panenka, dessen überheblicher Schlenzer eine so unvorstellbare Flugbahn ins Tor nahm, dass ich einen Moment lang glaubte, ich würde doch nur träumen und sei nicht von meinen Eltern geweckt worden). Wenn es stimmt, dass das Abschneiden der Nationalmannschaft bei großen Turnieren das eigene Leben zu strukturieren vermag, ihm eine in Zwei- und Vierjahresblöcken eingeteilte Ordnung verleiht, dann ist dieser Faden spätestens vor acht Jahren gerissen. Mit Ausnahme der Vizeweltmeisterschaft 2002 ist seither nichts Erinnerungswürdiges mehr geschehen. Wie soll man eine sang- und klanglose Viertelfinalniederlage wie 1998 oder ein Aus in der Vorrunde (2000 und 2004) noch in die große Erzählung des deutschen Fußballs integrieren? Und nicht einmal der spröde, von Losglück begünstigte Überraschungserfolg von 2002 hat einen historischen Moment, ein bis heute gültiges Bild hervorgebracht (die letzte solche Szene war Oliver Bierhoffs Golden Goal 1996). Seit zehn Jahren franst die einst so gebündelte Erfolgsgeschichte aus, und man fragt sich, welche Konsequenzen das für heutige Zehn- oder Zwölfjährige hat. Ihnen steht in einer unruhigen Nacht oder auf langatmigen Autofahrten keine Zahlenfolge mehr zur Verfügung, die sie sich vergegenwärtigen könnten; der Fußball, die Nationalmannschaft mag noch für vereinzelte Augenblicke der Begeisterung, der Euphorie sorgen, stellt aber keinen biografischen Rahmen mehr bereit. Und die Hoffnung, dass mit der kommenden Weltmeisterschaft eine neue Ära des Erzählens beginnen könnte, ist nicht besonders groß. Vielleicht erfolgt diese Beschreibung eines Niedergangs aber aus fragwürdiger Perspektive; vielleicht hat die Ordnung des eigenen Lebens durch den Fußball weniger mit der Qualität der Nationalmannschaft als vielmehr mit dem Alter desjenigen zu tun, der diesen Versuch unternimmt. Die Weltmeisterschaften von 82 und 86, für den Panini-Bilder sammelnden Schüler damals unumstößliche Glieder der Erfolgskette, wurden allgemein eher als stagnierende Phase des deutschen Fußballs gewertet. Umgekehrt fügen sich die letzten Turniere für die heutigen Kinder womöglich zu einem für uns rätselhaften Ganzen. So erfolgreich kann eine Fußballmannschaft gar nicht sein, dass man die eigene Biografie von einem bestimmten Zeitpunkt an noch als Einheit wahrnähme.