Diesem Mädchen ist gerade nicht zu entkommen: der 21-jährigen Vanessa aus dem Allianz-Werbespot für »Instrumentenversicherung«. Sie ist ein typisches Indie-Girl, mit Sternentattoos auf dem Unterarm und einer ausrasierten Schläfe, über die das schwarz gefärbte, strähnige Haar fällt. In einem typischen Indie-Übungsraum zupft sie ihr selbst geschriebenes Lied und erzählt dabei, wie sie nach einem Unfall auf dem Weg zum Konzert neulich eingesehen hat, dass sie unbedingt eine Versicherung brauche: »Wenn man Musik macht«, sagt Vanessa, »ist das Instrument sein höchstes Gut.«
Ach so. Klar. Ich muss gestehen: Mich macht dieser Werbespot sehr, sehr aggressiv. Andere mögen wegen »Stuttgart 21« demonstrieren – ich würde gern gegen »Nessi 21« auf die Straße gehen, wie ihre Fanseite auf Facebook heißt. Natürlich ist dieser Spot nur die jüngste Bestätigung eines Gesetzes, das schon seit Längerem gilt. Es besagt: Wenn sich heute ein Film der verwaschenen Independent-Ästhetik der Neunziger bedient, muss es sich um Reklame für Sparkassen oder Versicherungen handeln. Man denke nur an die »Ergo«-Werbung mit dem verträumten jungen Plattensammler, die einer Szene aus dem Film High Fidelity nachgestellt ist.
Auf den ersten Blick erzählen diese Spots also die alte Geschichte der repressiven Toleranz: eine ehemalige Subkultur, deren Codes irgendwann von der Industrie aufgesogen und zum Verkauf von Produkten benutzt werden. Das war bei den Hippies so, bei den Punks – warum sollte die »Indie«-Kultur der Neunziger nicht denselben Weg gehen? Doch es genügen ein paar Klicks im Netz über die Sängerin Nessi, um zu erkennen, dass sich die Dinge grundlegend geändert haben. Die alten Aufspaltungen – hier alternatives Bewusstsein, da kommerzielles Interesse – spielen keine Rolle mehr. Alles fällt in eins. Denn Nessi aus Berlin, die es wirklich gibt, ist eine politische Aktivistin, eine bekannte Figur der Veganer- und »Animal Liberation«-Szene; durch die Internet-Filme Nessi wird vegan sind die Allianz-Leute vermutlich auch auf ihr telegenes Gesicht gestoßen. Via Facebook rief Nessi neulich auf: »nicht vergessen! morgen ab 15.30h backe ich zusammen mit den punkrockern von ANTI FLAG vegane Waffeln«.
Punk und Instrumentenversicherung, Gegenkultur und Großkapital: All das lässt sich im Jahr 2010 im Bewusstsein einer einzigen Person unterbringen. Noch die romantischste Empfindung ist mit der Logik der Ökonomie vereinbar. Vielleicht repräsentiert Nessi tatsächlich ein neues Menschenbild. Was die Soziologie den »emotionalen Kapitalismus« der Gegenwart nennt, ist in diesem kurzen Werbespot auf bewundernswerte Weise gebündelt.