»Ich hatte ziemlichen Respekt vor der Aufgabe«

Der Tätowierer Andy Engel war für seine fotorealistischen Motive bekannt – bis sich eine Kundin nach einer Krebserkrankung wünschte, dass er ihr neue Brustwarzen tätowiert. Heute verhilft Engel vielen Frauen zu neuem Körperbewusstsein.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Herr Engel, Sie haben sich als Tätowierer auf Brustwarzen spezialisiert. Wie kam es dazu?
Andy Engel: Eine Stammkundin hat mich vor über zehn Jahren dazu gebracht. Sie war an Brustkrebs erkrankt und nach dem chirurgischen Wiederaufbau der Brust kam sie zu mir und sagte: »Andy, bitte tätowiere mir eine neue Brustwarze.«

Wussten Sie sofort, was zu tun war?
Ich bin bekannt für meine fotorealistischen Motive, also Tattoos, die sehr, sehr echt aussehen. Handwerklich wusste ich also, was zu tun war. Trotzdem musste ich mich an diese Aufgabe erst einmal herantasten. Ich gebe zu, dass ich ziemlichen Respekt davor hatte.

Warum?
Weil ich wusste, was das für die Frau, für ihr Körper- und Selbstbewusstsein bedeutet. In meiner Familie sind mehrere Frauen an Krebs erkrankt, deshalb konnte ich den Wunsch der Kundin gut verstehen. Sie hatte zwar die Krankheit überstanden, fühlte sich mit sich und ihrem Körper aber nicht wohl. Nicht schön. Deshalb stach ich das Tattoo.

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Wie reagierte die Frau?
Sie war überglücklich. Sie sagte, dass sie sich endlich wieder ganz fühle.

»Oft haben sie sich jahrelang nicht einmal vor ihrem eigenen Partner ausgezogen«

Was ist das Schwierigste daran, eine Brustwarze zu tätowieren
Das Gewebe einer bestrahlten und operierten Brust ist oft stark vernarbt. Es ist schwer, da überhaupt Farbe reinzukriegen. Die größte Herausforderung liegt aber nicht im Technischen.

Sondern?
Darin, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen. Oft haben sie sich jahrelang nicht einmal vor ihrem eigenen Partner ausgezogen, und dann müssen sie sich vor mir zeigen, in all ihrer Unsicherheit und Verletzlichkeit. Das ist für viele Frauen unglaublich schwer. Ich habe mal mit einer Frau einen Beratungstermin gehabt, die war 68 Jahre alt. Sie sagte mir unter Tränen, dass sie sich seit acht Jahren, seit dem Ende der Bestrahlung, nicht mehr unterhalb ihres Halses im Spiegel anschauen konnte.

Mittlerweile bieten Sie in Ihrem Studio eine komplette Brustwarzenrekonstruktion an. Sogar in Zusammenarbeit mit Chirurgen.
Ja, wir sind ein richtiges Team. Nach der Krebsbehandlung wird die Brust der erkrankten Frau in einer Klinik chirurgisch rekonstruiert. Und ich setze dann mit der Tattoomaschine die optischen Feinheiten drauf. Ich habe allein 24 Farben anmischen lassen, um die menschliche Brustwarze detailgetreu nachzustehen. Wir verbessern diesen Prozess ständig.

Wie zum Beispiel?
Früher wurden Brustwarzen aus Augenlidern oder Schamlippen rekonstruiert. Das Problem dabei ist, dass dieses Gewebe sehr fein ist und ich das deshalb schwer tätowieren kann. Es nimmt kaum Farbe auf und blutet stark. Heute nutzt man dazu häufig das sogenannte »Nippelsharing«. Da wird von der gesunden Brust ein Teil de Brustwarze genommen und auf der anderen Seite wieder angesetzt. Außen herum wird dann der Vorhof detailgetreu nachtätowiert.

Zahlt das die Krankenkasse?
Mittlerweile übernimmt etwa die Hälfte der Krankenkassen die Brustwarzenrekonstruktion voll.

Tätowieren Sie noch andere Motive außer Brustwarzen?
Ich verbringe ungefähr die Hälfte meiner Arbeitszeit mit Brustwarzenrekonstruktionen. Meine Warteliste für tätowierte Portraits geht noch ein paar Jahre. Wenn die abgearbeitet ist, will ich nur noch Brustwarzen stechen.