Vielleicht kann man sich Pauline Deltour wie einen wandelnden Scanner vorstellen, der jeden Gegenstand abtastet. Fotografiert. In einen Speicher legt. Man sieht es an der Art, wie ihre Augen im Café ganz kurz über den Tisch gleiten, während sie erzählt. Über das Wasserglas, den Salzstreuer, das Besteck. Man hört es, wenn sie eine Arbeitsplatte beschreibt und von der Maserung der einzelnen Holzstückchen spricht. Oder von der weichen weißen Schneeschicht auf einem Gartenstuhl, die beinahe wie ein Polster aussieht. Deltour ist 29 und Produktdesignerin – sie gilt als eine der vielversprechendsten, weil sie so präzise arbeitet.
Auf ihrem Rechner hat sie einen eigenen Ordner nur für Ansichtskarten, deren Motive ihr aufgefallen sind, abgelegt unter »Nice«. Nettes Zeug. Wenn sie für einen Auftrag nach Japan fliegt oder mit ihrem Freund in Urlaub fährt, scannt sie weiter – wie Gegenstände anderswo verarbeitet sind, welche Form eine Gabel haben kann, woraus ein Papierkorb in Tokio gemacht ist. Sie merkt sich Kleinigkeiten. Ein Teil davon fließt später in ihre Arbeit ein. Von einer Woche Ferien in Spanien kam sie unlängst mit zwei gebrannten Tontellern zurück, die ihr in einer Töpferei ins Auge gestochen sind. »Zu Hause habe ich eine ganze Sammlung von Gegenständen«, sagt Deltour. Die ein Meter sechzig große Frau wurde in der Bretagne geboren und wuchs im Pariser Umland auf. Von sich reden machte sie erstmals, als sie vor vier Jahren ihren ersten Auftrag von Alessi bekam – Architekten wie Zaha Hadid und Jean Nouvel waren über vierzig, als der italienische Küchendesigner mit ihnen zusammenarbeitete.
Deltour saugt Farben, Formen und Materialien in sich auf, wo sie geht und steht. Zuhause sammelt sie Aschenbecher, Blumenvasen, Wasserkaraffen, Dinge, die schön anzusehen und zugleich nützlich sind. Auf Reisen mag sie Länder am liebsten, in denen ihr alles fremd ist, in denen sie von morgens bis abends Eindrücke sammeln kann. »Ich mag Orte, die chaotisch sind.« Orte wie Paris zum Beispiel, wo die Designerin seit zwei Jahren ein eigenes Atelier hat. Zwölf Quadratmeter an der Rue du Faubourg Saint-Antoine, neben der Bastille-Oper, in den Räumen, in denen zuvor Jean Paul Gaultier seine Kollektionen entwarf. Sechs Quadratmeter eigentlich, weil sie sich das Atelier mit einer früheren Studienkollegin teilt. Raumhohe Fenster, weiße Wände, links ein Regal mit Ausstellungskatalogen, Bildbänden, Designbüchern. Rechts eine Holzleiste, auf der ein paar Fotografien ihrer Entwürfe lehnen. Ein Tisch, der aus einer rohen Holzplatte auf zwei Böcken besteht, ein Computer, ein paar Stifte, sonst nichts. Kein Lärm von der Straße, nicht einmal eine Uhr, die tickt. Ungewöhnliche Stille für Paris.
»Paris ist abstoßend«, sagt Deltour, die zuvor in München gelebt hat. Drei Jahre lang arbeitete sie dort für Konstantin Grcic, dem ihre Genauigkeit schon aufgefallen war, als er an der Hochschule einen Vortrag hielt. »Andere haben mit 25 vielleicht auch diese erlernten Fähigkeiten, die man als Designer eben braucht«, sagt Grcic, »oder sie können gut zeichnen; doch den Unterschied macht der Intellekt – Prozesse mitdenken, mitsteuern; das konnte sie sehr gut.«
»Paris ist laut, es ist schmutzig, die Leute sind unfreundlich«, sagt Deltour. »Es ist das Gegenteil von München. Deshalb zieht es mich an. Ich brauche Unordnung.« Genau das ist ihr Arbeitsprinzip: Dass sie ihre Augen im Chaos baden lässt – und aus dem Sammelsurium dann alles Schmutzige, Grelle, Eckige herauswäscht, bis nur die Quintessenz übrigbleibt. Wie der Papierkorb, den Alessi ihr gleich nach dem Diplom abgekauft hat und der im Grunde nur aus einem Metallzylinder besteht, an den ein paar Dutzend Stahldrähte geschweißt sind. Oder die Stifteablage – eigentlich bloß ein Stück Holz, das eine abgerundete Vertiefung bekam. Dass ihre Arbeiten dabei so etwas wie Vollkommenheit ausstrahlen, hat einen Grund: Deltour kennt ihren Werkstoff in- und auswendig. »An der Hochschule für angewandte Kunst in Paris haben wir drei Jahre lang gelernt, was es für Materialien gibt und was sich damit machen lässt. Unsere Dozenten haben Kaffeemaschinen auseinandergebaut und Autotüren mit uns zerlegt, damit wir verstehen, welche Art von Material sich wie formen lässt. Sie haben Kunststoff angezündet, damit wir sehen, wie er auf Hitze reagiert.«
Stahldraht: Der gefiel Deltour für ihre Diplomarbeit. Ein Industriewerkstoff für den Alltagsgebrauch. Sie entwarf einen Papierkorb und suchte eine Firma, um einen Prototyp zu fertigen. Fand eine passende in der Nähe von Dijon im Burgund, verbrachte zwei Monate lang mit Notizblock und Fotoapparat in den Werkstätten. Stand jeden Morgen um sieben in der Fabrik, schaute den Arbeitern zu, begriff nach und nach, mit welcher Maschine sich was machen lässt. Heraus kam der Papierkorb mit dem eleganten, schlichten Drahtgeflecht, der Alberto Alessi so gut gefiel, dass er Deltour mit einer ganzen Serie beauftragte. Zu ihrer Kollektion »A Tempo« gehören auch ein Abtropfgitter für Geschirr und ein Schirmständer. Nach dem Stahl nahm die Französin sich weichere Materialien vor, entwarf unter anderem einen Tisch aus Holz und Möbelstoffen für den dänischen Textildesigner Kvadrat. Derzeit arbeitet sie mit Keramik und Kork. »Ich will alles ausprobieren und nicht auf ein Material festgelegt sein.«
Genauso puristisch-perfekt wie ihre Arbeiten tritt Deltour selbst auf: Gerade geschnittener dunkler Rock, schlichtes helles Seidentop, ein Silberkettchen ohne Anhänger um den Hals. Nur ein himbeerroter Lippenstift betont ihren Mund. Die Frau ist jung, bildhübsch und begabt. Und superfreundlich obendrein. Irgendwann ertappt man sich dabei, dass man auf ihre Hände schielt, um zu schauen, ob sie wenigstens abgekaute Fingernägel hat. Hat sie nicht. Dass man hinhört, ob sie vielleicht lispelt oder etwas in der Art. Tut sie nicht. Stattdessen sorgt sie sich um die Zukunft des Planeten. »In wenigen Jahrzehnten werden wir neun Milliarden Menschen auf der Erde sein. Wie soll das gehen, wenn wir weiterhin so viel konsumieren? Wir müssen damit aufhören und viel mehr das bereits Bestehende neu verwerten.« Das Bürozubehör aus Holz, das Deltour für die japanische Lifestylekette Muji entworfen hat, ist ein gutes Beispiel dafür, sie hat es aus Abfällen eines Küchenherstellers gemacht. Zuletzt hat Deltour an einem länderübergreifenden Ausstellungsprojekt für das London Design Festival mitgemacht – mit einer »Wunderkammer«, einer Art Schaukasten, in dem sie eine Sammlung verschiedener Werkstoffe präsentiert. Passt gut zu dieser Wunderfrau.
Fotos: Frank Juery, Myrzik und Jarisch