Die einfachen Ziffern Eins bis Sechs scheinen zu komplexen Zahlen zu mutieren, wenn sich neben dem Schüler auch der Lehrer verrechnet hat. Nun müssen die Folgen von dessen Fehlern analysiert werden, um einen moralischen Notenschlüssel zu erhalten.Dabei sollen Gleichbehandlung und Ehrlichkeit integriert werden. Im Sinne der Gleichbehandlung müsste die Note angepasst werden; die Ehrlichkeit wird dagegen besser gefördert, wenn die Zensur bleibt, weil die Schüler ermutigt werden, nachträglich entdeckte Fehler offen zu legen, statt sie zu verheimlichen. Gebührt einem Vorrang? Dahinter stehen zwei grundlegende ethische Werte: Gerechtigkeit und Wahrheit. Bei Platon, einer Wurzel abendländischer Philosophie, findet man einerseits in Nomoi, dass die Wahrheit »allen Gütern für die Götter, für die Menschen vorangeht«, andererseits lässt er in Der Staat Sokrates über die Gerechtigkeit sagen, sie »gehört zu dem Schönsten, nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen wie wegen der daraus entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muss, der glücklich werden will«. Moralisch geht also weder Wahrheitspunkt vor Gerechtigkeitsstrich noch umgekehrt, die Frage bleibt primär eine pädagogische; in dieser Hinsicht haben meine Recherchen ergeben, dass erfahrene Lehrer meist die bessere Note belassen, obwohl schulrechtlich auch das Gegenteil möglich wäre.Schließlich die Wahlmöglichkeit. Ich halte sie nicht für unfair, im Gegenteil, mir gefällt die Idee. Trotz allen Drucks von außen lassen Sie den Schülern mehr autonome Entscheidung. Vor allem aber »zwingt« hier eine Rechenaufgabe zur Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit und Wahrheit, Gruppendruck und persönlichem Vorteil, letztlich auch mit Freiheit und Eigenverantwortung. Das jedoch kann ich aus ethischer Sicht nur begrüßen.
Die Gewissensfrage
»Es kommt vor, dass ich mich als Lehrer beim Addieren von Punkten verzähle und ein Schüler deshalb eine bessere Note als verdient erhält. Wenn er mich dann auf den Fehler hinweist, stelle ich ihn vor die Wahl, ob er die bessere Note behalten will oder ob ich seine echte Leistung bewerten soll. Ich bin mir aber nicht sicher, ob mein Angebot überhaupt fair ist. Weil nicht selten Schüler dann die verdiente (schlechtere) Note wählen, könnte es sein, dass der moralische Druck für andere zu hoch ist, um sich für die bessere, aber leistungsmäßig unverdiente Note zu entscheiden.«
REINHARD K., MÜNCHEN