Die Gewissensfrage

»Wenn mein Mann und ich uneins sind, wer zum Beispiel die Blumen gießen oder die Wäsche aufhängen muss, spielen wir das bekannte Kinderspiel ›Schere, Stein, Papier‹, bei dem man mit der Hand Symbole formt, die einander besiegen. Die so gefundene Entscheidung wird dann anstandslos akzeptiert. Nun fängt mein Mann, seit ich ihn kenne, immer mit Schere an. Ich kann also stets über Sieg oder Niederlage entscheiden und so unliebsame Ergebnisse abwenden. Muss ich meinen Gatten auf seine Berechenbarkeit hinweisen oder kann ich weiterhin alle Spiele für mich entscheiden?« ULRIKE R., BERLIN

Interessanterweise wird das von Ihnen geschilderte Kinderspiel »Schere, Stein, Papier« auch in der Spieltheorie verwendet, jenem Analyseinstrument für Interaktionen, das mit etlichen Nobelpreisen geadelt wurde. Da zwei Personen beteiligt sind, der Gewinn des einen den Verlust des andern darstellt und beide Spieler sowohl die eigenen wie auch die gegnerischen Möglichkeiten und Präferenzen kennen, handelt es sich in dieser Terminologie um ein »endliches Zweipersonen-Nullsummenspiel mit vollständiger Information«. Nach dem Fundamentalsatz des ungarisch-amerikanischen Mathematikers John von Neumann, der die Spieltheorie begründete, gibt es für jedes dieser Spiele ein Gleichgewicht, von dem abzuweichen sich für keinen der beiden Teilnehmer lohnt. Dieses Gleichgewicht lässt sich durch sogenannte gemischte Strategien erreichen. Die optimale Strategie wäre in diesem Fall streng zufällig, also mit einer Wahrscheinlichkeit von je einem Drittel, Schere, Stein oder Papier zu zeigen. Wer das tut, kann auf Dauer nicht verlieren. Ihr Mann dagegen verfolgt eine reine Strategie, wenn er immer Schere zeigt, und verliert dabei ständig – zumindest im Spiel. Wie kann das sein? Voraussetzung des Modells ist unter anderem, dass sich die Spieler rational verhalten und beide wissen, welchen Stellenwert das Ergebnis beim anderen jeweils hat. Entweder Ihr Mann handelt gelinde gesagt völlig irrational oder Sie haben nicht alle Informationen über seine Präferenzen, über das, was er wirklich erreichen will. Solange Ihr Mann halbwegs bei Verstand ist, halte ich Letzteres für wesentlich wahrscheinlicher – mit einer interessanten Konsequenz: Während Sie glauben, ihn zu manipulieren, manipuliert in Wirklichkeit er Sie. Aber offenbar hat sich das bei Ihnen gut eingespielt.Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.