Die Gewissensfrage

Kürzlich habe ich in einem Fahrradladen ein gutes gebrauchtes Fahrrad zu einem sehr guten Preis gesehen. Spontan kam mir in den Sinn, dass es perfekt für meinen Bruder sein könnte. Ich rief ihn an, und wir beschlossen, dass ich das Fahrrad für ihn kaufen sollte. Als ich es nach Hause brachte, merkte ich, was das für ein tolles Stück ist, und entschied, es für mich zu behalten. Das hat eine lebhafte Debatte in unserer Familie ausgelöst. Wie sehen Sie das? HORST B., LEER

Wieder einmal eine Konstellation, die einem juristischen Lehrbuch entnommen sein könnte. Dort stünde am Ende die Frage, wer Eigentum an dem Fahrrad erworben hat. Nun hoffe ich, dass Sie und Ihr Bruder die Sache ohne Einschaltung der Gerichte lösen wollen, weshalb es hier weniger interessiert, wem das Fahrrad im Rechtssinne gehört, sondern nur, wem es gerechterweise zusteht.Und da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Einerseits haben Sie das Fahrrad, wie Sie selbst schreiben, »für« Ihren Bruder gekauft. Sie haben ihm mit dem Kauf zwar einen Gefallen erwiesen, das aber ändert nichts an der Tatsache, dass es von Anfang an »sein« Fahrrad war. Auf der anderen Seite lässt sich argumentieren, dass Sie das Schnäppchen entdeckt haben und es nicht ganz einzusehen ist, warum sich statt Ihrer nun Ihr Bruder daran erfreuen soll, wo er doch nichts anderes getan hat, als den Telefonhörer abzunehmen und Ja zu sagen.Beides lässt sich vertreten; ich persönlich finde, dass mehr in Richtung Ihres Bruders spricht: Sie wollen das Rad behalten, weil Sie, nachdem Sie es gekauft hatten, seinen wahren Wert erkannten. Hätte es sich hingegen nicht als so immens tolles Stück oder gar als rechte Krücke entpuppt, wäre es das Rad Ihres Bruders geblieben. Er trug also das Risiko, dann soll er auch den Gewinn haben. Schließlich ein Aspekt auf einer ganz anderen Ebene: Entstanden ist das Problem, weil Sie »bereuen«, sich das Rad nicht selbst gekauft zu haben. Anstelle konfliktträchtiger Aktionen hilft in solchen Situationen vielleicht mehr Gelassenheit, wie man vom großen Montaigne lernen kann: »Bei allen Geschäften, wenn sie einmal vorüber sind, ganz gleich wie, da bedauere ich nie, dass ich es nicht anders gemacht habe; der Gedanke, dass die Dinge so laufen mussten, nimmt mir allen Kummer; nun sind sie einmal in den großen Strom der Welt eingegangen.«Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.