Hier schwebt das Sprichwort »Geschenkt ist geschenkt, wieder holen ist gestohlen« im Raum. Ihm zufolge soll eine Schenkung auf alle Fälle endgültig sein. Offenbar bevorzugen wir, Angelegenheiten als abgeschlossen zu betrachten. Sokrates ging sogar in den Tod, um die Rechtskraft des gegen ihn gefällten Urteils nicht zu brechen; sonst könnte, so seine Überlegung, kein Staat mehr bestehen. Derart ernste Folgen haben Geschenke glücklicherweise meist nicht, aber der Grundsatz soll wohl auch für sie gelten. Warum diese Festlegungen? Vielleicht weil sie helfen, in einer Welt voll von Unvorhersehbarkeiten den Überblick zu behalten.
Soll deshalb auch hier eine Stichtagsregelung gelten? Ich meine: nein. Zum einen war die Jacke kein Rote-Schleife-Geschenk. Es ging in erster Linie um die eigene Entlastung, gepaart mit dem Nebeneffekt, etwas Nettes zu tun. Das hat fast mehr von einer Dauerleihgabe als von eigentlichem Schenken. Zum anderen besteht hier eine doppelte Nähe: Die Jacke blieb innerhalb einer Beziehung, und die Weitergabe erfolgte erst vor Kurzem. Schenkung und Verlust in dieser Konstellation getrennt zu betrachten scheint deshalb unnatürlich. Verzichtet man darauf, gelangt man schnell zu einer Lösung. Ihre Freundin hatte keinen Schaden, wohl aber Sie, deshalb sollten Sie auch das Geld erhalten. Haben Sie auch eine Gewissensfrage?
Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Str. 8, 81677 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.
Illustration: Marc Herold