Die Gewissensfrage

Viele Läden versprechen gerade, mit einem Teil ihrer Erlöse die Erdbebenopfer in Japan zu unterstützen. Darf eine solche Aktion auch dem Marketing dienen?

»Ich habe eine Gewissensfrage zur Katastrophenhilfe. Anlässlich des Erdbebens und Tsunamis in Japan werben derzeit viele kleine Onlineläden mit dem Versprechen, alle Gewinne derzeitiger Verkäufe würden an japanische Hilfsorganisationen gespendet. Eigentlich ist das löblich, nun werde ich aber das Gefühl nicht los, dass diese Firmen das Erdbeben zur Selbstvermarktung nützen. Sind solche Marketingkampagnen moralisch vertretbar?« Marla W., Berlin
Im ersten Moment ist man hin- und hergerissen: Einerseits lässt sich argumentieren, Hilfe ist Hilfe, Hauptsache, es wird geholfen. Andererseits empfindet man Befremden darüber, wenn jemand mit dem Unglück anderer Profit macht, und sei es nur über öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zur Hilfe.

Wie so oft hilft beim logischen Aufarbeiten Immanuel Kant, hier mit seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant grenzt zunächst pflichtmäßige von pflichtwidrigen Handlungen ab, rein danach, ob sie äußerlich dem entsprechen, was die Pflicht gebietet. Das scheint hier klar, Kant schreibt dazu: »Wohltätig sein, wo man kann, ist Pflicht.« Die Hilfe für die Katastrophenopfer ist also pflichtmäßig.

Davon ist aber die Frage zu trennen, warum man so handelt. Dabei unterscheidet Kant drei Beweggründe: Handlungen aus mittelbarer Neigung, aus unmittelbarer Neigung und aus Pflicht. Aus mittelbarer Neigung handelt nach Kant etwa ein Kaufmann, der seine Kunden ehrlich bedient, aber nur um seinen guten Ruf zu wahren und damit sein Geschäft zu fördern. Die Ehrlichkeit ist für ihn Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung. Kant nennt das »selbstsüchtig« oder »eigennützig«. Aus unmittelbarer Neigung handelt, wer einem anderen hilft, weil er ihn mag oder weil er Mitleid hat. Diese beiden Beweggründe sind für Kant nicht falsch, aber moralisch neutral. Einzig die Handlung aus Pflicht, wenn man das, was geboten ist, deshalb tut, weil es geboten ist, hält Kant für moralisch.

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Ich weiß nicht recht, ob ich wie Kant das Mitleid für moralisch wertlos halten soll oder ob ich da nicht eher Arthur Schopenhauer zuneige, der im Mitleid den Ursprung der Moral sah. Aber ich möchte Kant so weit folgen, als man Handeln aus Eigennutz zunächst als moralisch neutral bewertet. Im Ergebnis bedeutet das für mich: Wenn der Händler aus Mitleid spendet oder weil er es für seine Pflicht hält und das Marketing Nebeneffekt ist oder dazu dient, noch mehr Geld für die Opfer zu akquirieren, ist es moralisch. Macht er es dagegen vor allem aus Marketinggründen, halte ich es aber immer noch nicht für unmoralisch, sondern für moralisch neutral. Ein Problem entstünde erst dann, wenn das Marketing so weit in den Vordergrund tritt, dass sich der Händler sogar über das Unglück freut, weil es ihm Gelegenheit zu einer Kampagne gibt. Aber das ist nicht zu hoffen.

Rainer Erlingers Literaturempfehlung zu diesem Thema:

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 397 ff.

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysk der Sitten, Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scarano, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007, S. 177ff. zu Kant AA IV, 397, 18.

Dieter Schönecker, Allen W. Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ Ein einführender Kommentar, Schöningh Verlag UTB, Paderborn 2002 S. 58ff.

Arthur Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, Meiner, Leipzig, 2006

Illustration: Marc Herold