»Obwohl meine Freundin und ich ein gemeinsames Kind haben und schon seit sechs Jahren zusammen sind, haben ihre Eltern mir noch nicht das Du angeboten. Unser Sohn dürfte bald registrieren, dass ich seine Großeltern förmlich mit dem Nachnamen anrede. Mich duzen die Eltern meiner Freundin übrigens. Sollten nun meine Freundin oder ich sie darum bitten, dass ich Du zu ihnen sagen darf?« Heiko W., Baden-Baden
In der österreichischen Fernsehsendung Wir sind Kaiser empfängt der Kabarettist Robert Palfrader als Robert Heinrich I. in imperialer Umgebung Gäste, die er konsequent »erzt«, also Männer mit »er« und Frauen mit »sie« in der dritten Person Einzahl anspricht, während die Gäste ihn umgekehrt »ihrzen« müssen, das heißt mit »Ihr« oder »Eure Majestät« ansprechen, bis er sie mit den Worten entlässt: »Er (oder sie) darf sich zurückziehen, muss aber auch einmal ein bisserl brav sein!«.
Das Erzen und Ihrzen ist einigermaßen aus der Mode gekommen, dafür wurde das Duzen innerhalb der Familie modern, eine Form, die noch bis ins 19. Jahrhundert zwischen Eltern und Kindern unüblich war. So erschien 1811 eine Schrift unter dem Titel Ueber die Sünde des Du und Du zwischen Eltern und Kindern mit dem Hinweis, dass dieses zu vertraute Duzen »die natürliche Rangordnung erschüttert habe«. Vielleicht liegt ja den Eltern Ihrer Freundin an der Aufrechterhaltung dieser »natürlichen Rangordnung« womöglich auch, weil Sie ja offenbar kein offizieller Schwiegersohn sind. Insofern haben Sie es noch vergleichsweise gut damit getroffen, dass Ihre inoffiziellen Schwiegereltern Sie nicht erzen, also mit »er« anreden, eine Form, die man speziell in höfischer Umgebung Niedergestellten gegenüber verwendete.
Aber auch im einseitigen Duzen drückt sich eine Rangordnung aus: Derjenige, der geduzt wird, aber siezen muss, wird gewissermaßen wie ein Kind behandelt. Dementsprechend ist es heute auch üblich, Jugendliche ab einem gewissen Alter, meist etwa 16 Jahren, zu siezen, an der Schule auch »Oberstufen-Sie« genannt. Da Sie dieses Alter bereits hinter sich gelassen haben dürften, kommt man ins Grübeln: Wollen die Eltern Ihrer Freundin durch ihre Gepflogenheit etwas ausdrücken - Geringschätzung oder Kritik am fehlenden Trauschein - oder sind sie schlicht gedankenlos?
Und wie darauf reagieren? Naheliegend schiene mir, das einfach zu ignorieren und sich seinen Teil zu denken. Ansonsten wäre es wohl das Einfachste, wenn Ihre Freundin ihre Eltern auf die eigenartige Konstellation hinweist und ein beiderseitiges Duzen vorschlägt. Wobei ich es - gelinde gesagt - ziemlich verwunderlich finde, dass sie das nicht schon lange aus eigenem Antrieb gemacht hat.
Rainer Erlinger empfiehlt zu diesem Thema folgende Lektüre:
Werner Besch, Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 2. Auflage 1998
Friedrich A. Eckstein, Zur Geschichte der Anrede im Deutschen durch die Fürwörter. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 100, Leipzig 1869, 469-487
George Noehden: A Grammar of the German Language, 3rd. Ed. Revised, London 1816, S. 206; zitiert nach George J. Metcalf, Forms of Adress in German (1500-1800), St. Louis 1938, S. 128
Illustration: Marc Herold