Die Gewissensfrage

Ist es gerechtfertigt die hiesigen Studienbedingungen zu kritisieren, obwohl ganze Teile der Weltbevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Bildung haben?

»Ist es moralisch vertretbar, sich als deutscher Student über den Stress des Studiums zu beklagen, oder ist das purer Hohn dem Teil der Weltbevölkerung gegenüber, der keinerlei Bildungsmöglichkeiten hat?« Lukas Z., Lübeck

In Ihrer Frage liegt viel mehr, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Das, was Sie in Bezug auf das Bildungswesen schreiben, kann man auf alle Bereiche des Lebens übertragen. Und als Erstes feststellen, dass man durch einen Vergleich mit einer passend gewählten Vergleichsgruppe jedes Problem relativieren kann. Alle finanziellen Fragen ohnehin, aber auch existenzielle. Mit dem Verweis auf andere Länder und Regionen könnte man in einem wohlhabenden Land wie hier jede noch so berechtigte Forderung in sozialen oder auch Gerechtigkeitsfragen abschmettern. Und für nahezu jede Diskriminierung oder Entrechtung findet sich vermutlich irgendwo auf der Welt ein Ort, an dem es der betreffenden Personengruppe noch schlechter geht, man ihr etwa nach dem Leben trachtet.

Der zweite Aspekt scheint mir im Wort »beklagen« zu liegen. Es hat zweierlei Bedeutungsrichtungen: eine technische, im Sinne von anklagen oder »Klage erheben«; so nennt man auch den Gegner im Prozess – den, von dem der Kläger das ihm Zustehende einfordert – den »Beklagten«. Und eine emotionale im Sinne von wehklagen, also einen Schmerz ausdrücken. Dies kommt in »beklagenswert« zum Ausdruck.

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Die Verbindung dieser beiden Gedanken könnte die Lösung weisen: Wenn etwas falsch läuft, ist man nicht nur berechtigt, sondern es ist sogar sinnvoll und geboten, dagegen »Klage zu erheben«, auf den Missstand hinzuweisen und auf Abhilfe zu drängen. Eben das einzufordern, was einem zusteht. Das kann man auch dann, wenn es anderen noch schlechter geht, solange es nicht auf deren Kosten geht. Davon aber würde ich das Wehklagen unterscheiden. Es ist ein großer Unterschied, etwas zu fordern, einzuklagen oder darüber zu klagen, dass man es nicht hat. Dass man nicht alles hat, sollte nicht dazu verleiten, sich automatisch benachteiligt oder unglücklich zu fühlen. Und dabei kann der Gedanke an andere Menschen, denen es schlechter geht, hilfreich sein. Übrigens in vielen Bereichen.

Wenn also das Studium tatsächlich, etwa durch die Studienreformen im Rahmen des Bologna-Prozesses, übermäßig belastend geworden ist, dürfen Sie sich darüber ruhig beschweren, können sich aber dennoch über Ihre Möglichkeiten hierzulande insgesamt freuen.

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Quelle:

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Bd. 1, Sp. 1418: „BEKLAGEN“

Illustration: Marc Herold