Gute Nachbarn

Im Haus nebenan zieht eine junge Familie ein, stellt sich aber nicht vor. Jedes weitere Aufeinandertreffen wird zu einem unsicheren Zugenicke. Gehört es zum höflichen Umgang, sich als neuer Mieter bei den Nachbarn vorzustellen?

»Unser Nachbarhaus ist ein Einfamilienhaus, das vermietet wird. Im Laufe der Zeit hat sich keiner der neuen Mieter, die in der Regel alle jünger als wir waren, bei uns vorgestellt. Wir sind schon im Rentenalter, aber ich bin der Auffassung, dass diese Geste zum guten Ton gehört und man das schon in der Kindheit gelernt haben sollte. Liege ich da falsch?« Herbert K., Holzkirchen

Im Grunde haben Sie vollkommen recht: Es ist gut, sich in einer solchen Konstellation bei den Nachbarn vorzustellen. Schon allein, weil man sich in Zukunft regelmäßig über den Weg laufen wird und es komisch ist, wenn man sich dann lediglich etwas verdruckst zunickt und als »die Nachbarn rechts« respektive »links« kennt, aber nicht mehr. Nachbarn sind oft die Naheliegendsten, wenn es darum geht, einander zu helfen, auch dafür ist es gut, wenn man sich vorgestellt hat. Und ins benachbarte Einfamilienhaus zu ziehen, ist auch ein Grad von individueller Annäherung, der es höflich erscheinen lässt, sich vorzustellen. Wenn Ihre neuen Nachbarn das nicht tun, hat das aber vielleicht weniger mit Unhöflichkeit zu tun als vielmehr mit anderen Lebensmodellen. Sie schreiben davon, dass Sie das mit den neuen Mietern nebenan immer wieder so erleben. Die bleiben offenbar nicht so lange, dieses Haus ist ein Zwischenschritt, bald geht es wieder weiter und zu neuen Nachbarn. Deshalb ist vermutlich die Nachbarschaft auch nicht so wichtig für sie. Der Soziologe Georg Simmel stellte schon 1903 fest, dass Großstädter einander reserviert begegnen, weil man die Vielzahl der Kontakte sonst nicht aushalten könnte. Deshalb hätten Großstädter jene »Reserve, infolge deren wir jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen und die uns dem Kleinstädter so oft als kalt und gemütlos erscheinen lässt«. Der Idee, dass man sich in der Nachbarschaft vorzustellen hat, liegt auch eine bestimmte Auffassung über deren Bedeutung für das Leben zugrunde. Diese Auffassung haben aber nicht alle, manche genießen gerade den Abstand und die Unverbindlichkeit, weil sie andere Bezugsgruppen oder die Abgeschiedenheit bevorzugen. Menschen sind unterschiedlich, ihre Lebensentwürfe auch, deshalb muss man sie in weiten Grenzen so akzeptieren, wie sie sind.

Literatur:

Meistgelesen diese Woche:

Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Georg Simmel, Individualismus der modernen Zeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2008

Online abrufbar unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-gro...

Illustration: Serge Bloch