Zuhause: ein Einfamilienhaus in einem Vorort von Hoyerswerda
Schule: Léon-Foucault-Gymnasium
Eltern: Justizvollzugsbeamter, Computertrainerin
Geschwister: keine
Taschengeld: will sie keines
Berufswunsch: vielleicht Architektin
Lieblingsessen: Brokkoligratin
Lieblingsstar: Kaya Yanar
Größter Wunsch: nicht für uncool gehalten werden
Sommerferien: bleibt zu Hause
Juli sagt, sie wünsche sich, dass eine ihrer Ratten mal älter als zwei Jahre wird, aber sie sterben ja immer vorher. Entweder bekommen sie Lungenentzündung, dann hört man es rasseln, wenn sie atmen, oder sie haben einen Tumor, einen Knoten unter der Haut, der mit jedem Tag größer wird, dann kann man noch versuchen, ihn herauszuschneiden, aber es gibt in Hoyerswerda kaum Tierärzte, die so etwas können. »Die Tierärzte in Hoyerswerda können nur einschläfern«, erklärt Juli.
Mit ihren Eltern und sieben Ratten wohnt sie in einem Vorort der Stadt. Die Familie hat hier ein Haus gebaut. Seit einem Jahr wohnen sie darin und seither nimmt Juli kein Taschengeld mehr von ihren Eltern. »Erst muss das Haus abbezahlt sein«, sagt sie. Das ist zum Beispiel auch etwas, das sie sich wünscht: dass irgendwann dieses Haus abbezahlt sein wird.
Sie hat lange, helle Haare, die glatt bleiben, wenn sie sie nach dem Waschen föhnt, oder sich wellen, wenn sie sie nur trocknen lässt. Auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer liegt das Foto einer Frau, deren Haare voll und lockig sind. So eine Frisur will sie sich vielleicht bald machen lassen. Das wäre dann das erste Mal, dass ihre Mutter ihr nicht die Haare schneidet.
Julis Vater arbeitet in einem Gefängnis, ihre Mutter hat Maschinenbau studiert und führt Schulungen zu einem Computerprogramm durch. Sie muss viel reisen und kommt nur zwei-, dreimal in der Woche heim. Aber sie bringt Juli oft etwas mit von unterwegs, ein Buch oder eine CD oder etwas zum Anziehen, wenn sie am Fabrikverkauf vorbeifährt.
Wenn Juli aus der Schule kommt, lässt sie die sieben Ratten immer für eine Stunde durch den Flur laufen. Danach macht sie Hausaufgaben. Sie ist gut in der Schule, im letzten Zeugnis hatte sie eine Zwei in Sport, der Rest waren Einsen. Aber es ist nicht so, dass sie viel lernen würde, sagt sie. »Es fällt mir einfach nur leicht.«
Mathe und Physik und alles, was mit Technik zu tun hat, mag sie. In ihrem Regal stehen die Bücher Die Sterne, Das Wetter, Geklärte und ungeklärte Phänomene und Die Sieben Weltwunder. Sie weiß, dass das ein bisschen ungewöhnlich ist. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie ab der nächsten Klasse, der achten, den naturwissenschaftlichen Zweig an der Schule belegt. Aber ihre Eltern wollten, dass sie nicht nur Englisch als Fremdsprache lernt. In den Sprachklassen seien die begabteren Kinder, hieß es. Außerdem lernt sie dort Latein, das braucht sie, wenn sie mal Anwältin werden will, haben ihr die Eltern erklärt. Zum ersten Mal hätte Juli eine andere Entscheidung getroffen als ihre Eltern. So aber sitzt sie im nächsten Schuljahr mit fünf Jungs und 21 Mädchen in einer Sprachenklasse.
Ein paar der Mädchen kennt sie schon vom Sehen. Die stehen seit neuestem in den Pausen hinter der Turnhalle und rauchen. »Es sind die, die den coolen Status haben«, meint Juli. Sie kommen mit Absatzschuhen in die Schule und sind schon mit jemandem aus der achten Klasse gegangen.
Absatzschuhe besitzt Juli keine, sie schminkt sich nicht und will nicht rauchen. Sie möchte auch nicht Model oder Sängerin werden. Dass sie anders ist als diese Mädchen, eine Außenseiterin, freiwillig, darüber ist sie sich bewusst: »Den coolen Status bekommt man in die Wiege gelegt, den kann man sich nicht abgucken.« Sie hofft bloß, dass »die anderen mich nicht irgendwann uncool finden«.
Ihre Freundinnen mögen an ihr, dass sie gut zuhören und sich noch Wochen später genau erinnern kann, was ihr jemand erzählt hat. Manchmal rufen sie abends an und wollen Juli auf eine Party einladen. Doch sie geht eigentlich nie hin –»Ich habe keine Lust, besoffen ums Haus zu laufen«– und ihre Freundinnen verstehen das. Deswegen kündigen sie ihr doch nicht die Freundschaft auf. Von so was reden jetzt viele in der Klasse. »Aufkündigen«, sagt Juli, »als ob das ein Vertrag wäre. Das macht mich immer ganz wütend.«
Sie hatte noch keinen Freund, sie weiß auch nicht, was an Jungs so toll sein soll. Aber mit Heinzi versteht sie sich. Er kennt sich mit Kernspaltung aus und hat sein ferngesteuertes Auto so frisiert, dass es sechzig Kilometer pro Stunde fährt. Einmal haben sie über Neutronensterne geredet, die so schwer sind, dass ihre Gravitation die Wellen des Lichts beugen kann. Könnte man auf ihnen stehen und würde geradeaus schauen, sähe man auf den eigenen Hinterkopf. Das wusste Heinzi zum Beispiel auch. Aber er geht ja nicht mehr in ihre Klasse, er macht Naturwissenschaften, nicht Sprachen.
Nach dem Abendessen schaut Juli noch in der Zeitung das Horoskop an. Sie liest es immer abends, nie morgens, weil sie wissen will, dass alles anders kam als vorausgesagt. An Astrologie glaubt Juli nicht. Wenn ihr die Sterne etwas erzählen sollen, nimmt sie ihr Teleskop und geht nach draußen.
Juli sagt, sie würde gern offener auf Leute zugehen zu können. Im Supermarkt, wenn sie an der Schlange vorbeiwill; im Schulbus, wenn sie nicht weiß, ob der Platz frei ist, sich aber nicht zu fragen traut. Wenn sie morgens zur Haltestelle geht, wo der Schulbus sie abholt, übt sie jetzt aber schon, den Kopf nach oben zu halten und zu lächeln.
Foto: Konrad R. Müller