Und wie nennen wir es jetzt?

Früher sagte man »Familie«, und alles war klar. Aber die Erfindung der Reproduktionsmedizin hat diese simple Vorstellung ziemlich über den Haufen geworfen. Im Zeitalter von Samenbanken, Leihmüttern und anonymen Spenderlisten müssen wir uns neu orientieren. Ein Essay.

Wem sehen diese Augen ähnlich? Vielleicht einem Vater, den das Kind nie zu Gesicht bekommen wird.
Die Verfahren der neuen Reproduktionsmedizin sind im Jahr 2007 keine Randerscheinungen mehr. Vierzig Jahre nach Gründung der ersten Samenbanken in den USA und ein gutes Vierteljahrhundert nach den ersten kommerziellen Leihmutter-Agenturen sowie der Geburt der ersten »Retortenbabys« haben diese Techniken jede Exotik verloren. Auch in Deutschland ist die assistierte Empfängnis mittlerweile medizinische Routine, auch wenn die rechtlichen Einschränkungen weitaus größer sind als in vielen anderen Ländern. Leihmutterschaft oder Eizellenspende sind kategorisch verboten; die Samenspende eines Dritten ist zulässig, wird aber in den Richtlinien der Bundesärztekammer weiterhin als rein therapeutische Behandlungsmethode für heterosexuelle Paare ausgewiesen.

Um zu ermessen, wie stark die neuen Reproduktionstechnologien in die herkömmliche Gestalt der Familie eingreifen, genügt ein Blick auf die bislang gültigen Verwandtschaftstheorien der Ethnologie. Die »elementaren Strukturen der Verwandtschaft«, wie sie etwa Claude Lévi-Strauss untersucht hat, bestehen in einer Wechselwirkung von freiwillig und unfreiwillig eingegangenen Beziehungen: im willkürlichen Zueinanderfinden der Paare einerseits, in der zwingenden biologischen Vererbung von den Eltern auf die gemeinsam gezeugten Nachkommen andererseits. Die Technologien der assistierten Empfängnis verändern diese traditionellen Verwandtschafts- und Familienordnungen fundamental. (Lesen Sie auf der folgenden Seite: Wie ist das christliche Abendland von jeher mit Fremdkörpern innerhalb der Familie umgegangen?)

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Denn in die Wechselwirkung von Partnerwahl und notwendiger Vererbung schieben sich zusätzliche Akteure – Samenspender, Leihmütter, Reproduktionsmediziner – und bringen fragmentierte Elternschaften hervor. Der Prozess menschlicher Fortpflanzung, die Sphäre der Zweisamkeit schlechthin, öffnet sich und bezieht Dritte, Vierte, Fünfte in den Zeugungsvorgang mit ein. Wenn in den 1980er-Jahren gesellschaftliche Debatten über die »Patchwork-Familie« geführt wurden, kehren diese Fragen nun auf radikalere Weise, im Hinblick auf die Blutsverwandtschaft, wieder – assistierte Empfängnis bringt »genetisches Patchwork« hervor.

Wie ernsthaft die Ordnung des Zusammenlebens herausgefordert wird, zeigt sich vor allem, wenn man sich all jene historischen Konzepte und Figuren vergegenwärtigt, welche die blutsverwandte Kernfamilie seit Jahrhunderten ergänzt und bedroht haben. Wie ist das christliche Abendland von jeher mit Fremdkörpern innerhalb der Familie umgegangen? Welche Rolle haben »fiktive Verwandte« wie Stiefeltern, Adoptivkinder, Ammen oder Paten gespielt?

In Texten, die den Bildbestand und die kollektive Vorstellungskraft unserer Kultur besonders stark geprägt haben, wie den Volksmärchen der Gebrüder Grimm, gibt es eine Reihe von Geschichten, die vom prekären Eindringen nichtverwandter Figuren in die Familieneinheit erzählen. Es sind bekanntlich Stiefmütter, die Schneewittchen oder Hänsel und Gretel nach dem Leben trachten. Ähnliche Schreckensgeschichten über die Bedrohung der Kernfamilie finden sich auch im sozialgeschichtlichen Zusammenhang, etwa in den hygienischen Auseinandersetzungen über das Ammenwesen im 18. und 19. Jahrhundert. In dieser Debatte stand immer wieder die Frage im Blickpunkt, ob die Versorgung der Säuglinge durch Frauen, die nicht die leiblichen Mütter sind, schädlichen Einfluss auf ihre körperliche und seelische Entwicklung habe. Wie es einer der erbittertsten Gegner des Ammenwesens Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte: »Mit der fremden Milch saugen die Kleinen auch fremde Manieren und ein anderes Wesen ein.«

Von dieser 150 Jahre alten Warnung her wird das tiefe kulturelle Unbehagen anschaulich, das mit den gegenwärtigen Techniken der assistierten Empfängnis einhergeht. Denn unvergleichlich stärker als die falsche Muttermilch der Ammen stellen heutige Samen- und Eizellenspender oder Leihmütter die Identität eines Kindes, einer Familie, eines Verwandtschaftssystems auf die Probe. Wie lässt sich der Status der Spender als bloße Materiallieferanten oder Container der Fortpflanzung regeln? Auf welche Weisen sind die Beziehungen zwischen den Beteiligten zu stärken oder zu eliminieren, um die Stabilität der neuen Familien zu gewährleisten?

(Lesen Sie auf der folgenden Seite: In Deutschland ist die Zahl der erfolgreichen Samenspenden eines »Donors« auf 12 bis 15 begrenzt. Manche amerikanischen Spender haben nach eigenem Bekunden bis zu 500 Nachkommen gezeugt.)

Dass diese Fragen immer noch irritieren, zeigt sich in der schieren Menge wie auch in der ständigen Veränderung jener Richtlinien, die für Samenbanken und Leihmutter-Agenturen gelten. Die kategorische Anonymität des Samenspenders etwa, wie sie lange Zeit aus Gründen der klaren Sorgerechts- und Erbschaftsregelung bestand, verliert zunehmend an Fürsprache. Denn mit dem Heranwachsen der ersten Generation von »vaterlosen« Kindern hat sich die Unbestimmtheit der genealogischen Herkunft als problematisch erwiesen. Der Kenntnis der eigenen Abstammung kommt in unserer Kultur identitätsbildende Kraft zu.

Als Reaktion auf dieses Recht, seit 1989 in Deutschland auch gesetzlich verankert, betreiben alle großen Samenbanken mittlerweile Programme, in denen sich (wesentlich kostspieligere) Spender vertraglich verpflichten, die von ihnen gezeugten Kinder nach deren 18. Geburtstag mindestens einmal zu treffen. Mit der Anonymität der Samenspende verbunden ist zudem auch das Problem der Inzestangst. In Deutschland ist die Zahl der erfolgreichen Samenspenden eines »Donors« daher auf 12 bis 15 begrenzt. Manche amerikanischen Spender haben allerdings nach eigenem Bekunden bis zu 500 Nachkommen gezeugt, und solange die Halbgeschwister nichts von ihrer Existenz wissen, sind spätere Liebesverhältnisse zwischen Kindern desselben Spenders zumindest theoretisch denkbar. Einrichtungen wie die »Sibling Registries« der amerikanischen Samenbanken, in denen Spenderkinder ihre verstreuten Halbgeschwister kennenlernen können, sind eine Konsequenz dieser Ängste.

Auf dem Gebiet der Leihmutterschaft ist die Organisation der sozialen und verwandtschaftlichen Beziehungen noch prekärer. Kann eine Frau, die neun Monate lang ein Kind austrägt, dieses Kind nach der Geburt wirklich für immer abgeben? In den Richtlinien und Vertragswerken der amerikanischen Vermittlungsagenturen finden sich daher etliche Bestimmungen, die das Verhältnis zwischen Auftraggeber und austragender Frau bis in die detailliertesten Fragestellungen klären sollen. Die Paragrafen des Vertrags regeln den strikten Abbruch der Beziehungen zwischen den Beteiligten nach der Geburt bis zur Anzahl der Fotografien, die von den Auftragseltern an die Leihmutter geschickt werden muss. All diesen Verhaltenskatalogen zum Trotz gelingt die problemlose Übergabe aber nicht immer.

So sorgte etwa der »Baby M«-Fall aus dem Jahr 1987 für weltweites Aufsehen, als sich eine Leihmutter nach der Geburt weigerte, das Kind den Eltern auszuhändigen. In den Akten des jahrelangen Rechtsstreits zwischen den Parteien (den die Auftragseltern schließlich gewannen) ließe sich die Definition von Mutterschaft im Zeitalter assistierter Empfängnis anschaulich nachzeichnen.

(Lesen Sie auf der folgenden Seite: Warum der »Baby M«-Streit Aufsehen erregte.)

Es gehört wohl zu den größten Herausforderungen der neuen Reproduktionstechnologien, dass eine klare Grenzziehung zwischen den menschlichen Körpern zu verwischen droht. Wenn ein Baby dadurch zustande kommt, dass ein Mann seine Samenzellen, eine Frau ihre Eizellen, eine dritte ihre Gebärmutter zur Verfügung stellt, und ein weiteres Paar schließlich die Elternrolle annimmt, steht die Einheit des Subjekts auf dem Prüfstand. In psychologischen Untersuchungen über Familien, deren Kinder aus Samenspende hervorgegangen sind, findet sich gelegentlich die Formulierung, dass der soziale Vater sein Kind »abstößt«: eine Vokabel, die man eher aus dem Bereich der Organtransplantation kennt.

Und diese Assoziation ist folgerichtig: Bei Herztransplantationen – kurz vor den ersten Erfolgen der In-vitro-Befruchtung medizinische Realität geworden – kam es immer wieder zu psychischen Komplikationen, die jetzt auch im Zusammenhang mit den Methoden assistierter Empfängnis auftreten. In beiden Bereichen stiftet die Medizin existenzielle Beziehungen zwischen Menschen, die einander unbekannt bleiben, führt eine Montage von Körperzellen durch, die lange als unantastbar galten.

Die Angst der sozialen Eltern, die blutsverwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Kindern und Spendern könnten irgendwann doch noch ihre Macht entfalten, weist auf jene Frage, die vielleicht der blinde Fleck der neuen Reproduktionstechnologien ist. Es geht um das grundsätzliche Paradox, welche Funk-tion der genetischen Disposition für das Heranwachsen eines Menschen zukommt. Auf der einen Seite wird diese Bedeutung in den Samenbanken und Eizellen-Agenturen so hoch veranschlagt, dass die Spender in teilweise bis zu dreißig Seiten langen Anamnesen noch die Hautpigmentierung und die vordringlichsten Charakterzüge ihrer Großtanten und -onkel dokumentieren müssen.

Auf der anderen Seite aber vertraut man nach der Geburt des Kindes darauf, dass die Liebe und Zuwendung der nichtleiblichen Eltern die fehlende genetische Verbindung restlos tilgt. Wer ist die Mutter? Wer ist der Vater? Juristische Präzedenzfälle wie der »Baby M«-Streit vor zwanzig Jahren machen deutlich, dass Elternschaft immer stärker »entbiologisiert« wird. Im kalifornischen Familienrecht gibt es inzwischen die Kategorie der »intendierten Elternschaft« – das heißt, bei Streitfällen um Sorgerecht und Unterhaltspflicht zwischen sozialen Eltern und Spendern ist die Absicht, Nachkommen in die Welt setzen zu wollen, grundsätzlich höher zu werten als die genetische Verwandtschaft.

Der medizinischen Normalität von Samenspende und In-vitro-Fertilisation zum Trotz ist die Empörung über diese Verfahren genauso wie ihre Tabuisierung noch weit verbreitet. Gerade in den Tagen vor Weihnachten, dem Fest zu Ehren der Geburt Christi, wirkt es auf manche vielleicht wie Hohn, das Augenmerk gerade auf diese nicht auf natürlichem Wege zustande gekommenen Familien zu legen. Wenn man sich allerdings das Urmodell christlicher Familienbildung ansieht, die Heilige Familie aus Maria, Joseph und Jesus – fällt dann nicht schon auf den ersten Blick eine Besonderheit ins Auge? Maria und Joseph haben Jesus nach christlicher Auffassung nicht geschlechtlich gezeugt; der Samen ist durch den Heiligen Geist in den Körper Marias gelangt. Man könnte also in der Terminologie der assistierten Reproduktion ohne Weiteres sagen, dass Maria die Leihmutter Jesu ist, der Heilige Geist der Samenspender und Joseph der soziale Vater. Die christliche Religion bezieht sich also bereits in ihrer Ursprungsmythologie auf eine fragmentierte Familienstruktur.

Über die Gründe und Strategien, warum das Christentum sich gerade dieses Modells als Urbild bedient hat, hat der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke vor einigen Jahren ein Aufsehen erregendes Buch geschrieben. Einer der Kerngedanken dieses Buches besteht in der Überlegung, dass sich das Bild der offenen, auf der Vaterseite unklaren Kleinfamilie für das aufstrebende Christentum als wirkungsvolle Ikone erwiesen hat, um die Menschen zu erreichen, um sie besser regierbar zu machen. Die Urgemeinschaft aller Christen ist auf der Vaterposition immer schon untrennbar an die Instanzen der Religion gekoppelt. Wenn man diesen Gedanken auf die gegenwärtige Hochkonjunktur der neuen Reproduktionstechnologien überträgt, öffnet sich vielleicht ein Blickwinkel, der einen Zugang zu diesen Phänomenen jenseits bloßer moralischer Verwerfung oder emanzipatorischer Feier ermöglicht.

Die Praxis der assistierten Empfängnis erschiene dann nicht nur als bejubelte oder kritisierte medizinische Hilfeleistung, sondern wäre auch politisch zu interpretieren: als Maßnahme zur Bildung von Familien, die nicht aus sich selbst heraus entstehen können, die einer (wissenschaftlichen und nicht mehr religiösen) Instanz bedürfen, um zu existieren. Welche kulturellen und politischen Konsequenzen es haben wird, dass eine neue Generation von Menschen erst durch langwierige klinische Prozeduren, gefrorene Eizellen oder Zuhilfenahmen von Dritten entstanden ist, ob ihre Mentalität zögerlicher, autoritätsgläubiger sein wird, ist jetzt noch nicht zu ermessen. In den nächsten Jahrzehnten aber wird sich zeigen, ob die Methoden der assistierten Empfängnis ein neues Menschenbild hervorgebracht haben.

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