Wenn Andreas Gursky oder Martin Parr ein Foto machen, schreien sie; Rinko Kawauchi flüstert. »Warum, weiß ich nicht«, sagt sie, »aber meine Augen bleiben immer an winzigen, nebensächlichen Dingen haften«, das kann ein Grashalm oder ein Blütenblatt sein, eine tote Wespe oder ein Lichtstrahl, der durch die Wipfel der Bäume bricht. Man könnte auch sagen: Kawauchi fotografiert gern Dinge, die nicht lang auf der Welt sind: Feuerwerke, Schmetterlinge, Wolken. In ihrer Logik ist Vergänglichkeit eine Voraussetzung für Schönheit.
Rinko Kawauchi, 39, zählt zu den bedeutendsten Fotokünstlern Japans.
Geboren wurde sie in Shiga, drei Autostunden südwestlich von Tokio, wo sie heute lebt. Vor zehn Jahren wurde sie schlagartig bekannt, als sie drei wunderbare Bildbände gleichzeitig veröffentlichte: Utatane (Nickerchen), Hanabi (Feuerwerk) und Hanako, eine fotografische Erzählung vom ganz normalen Leben eines ganz normalen japanischen Mädchens. Seitdem hat Rinko Kawauchi auf der ganzen Welt ausgestellt und neun weitere Fotobände veröffentlicht. Ihr Thema ist die Erhabenheit des Alltäglichen, die Schönheit des Augenblicks; ihre Arbeiten sind pathetisch, aber unsentimental, unschuldig, melancholisch, aber nie ohne Hoffnung. Kawauchi-Bilder sind wie Träume, sie können trösten und verstören, je nach Verfasstheit des Betrachters, je nach Tages- und Nachtzeit, manchmal tun sie beides gleichzeitig.
Rinko Kawauchi scheint ihre Umgebung durch die Augen eines Kindes zu betrachten, als habe sie keine Ahnung, kein Gefühl für Prioritäten, Wichtigkeiten, Marktinteressen. Einmal hat sie eine Ausstellung mit intimen Bildern ihrer Familie bestückt, die Großeltern beim Spazierengehen und im Krankenhaus, die Mutter beim Kochen, alle als Dias an die Wand geworfen – im Hintergrund hörte man Vogelgezwitscher. Ausgerechnet Martin Parr, der große Ironiker der Fotoszene, sagt über Kawauchis Arbeit: »Ihre Bilder sind unverwechselbar und großartig, ich bin absolut überzeugt von dieser Künstlerin.«
Wen sonst also, wenn nicht Rinko Kawauchi, sollten wir bitten, in die zerstörten Gebiete im Norden Japans zu reisen, um uns nach all den Nachrichten- und Katastrophenbildern einen neuen, anderen, vielleicht ja ehrlicheren Blick auf die Lage vor Ort zu verschaffen? Ein Künstler sieht oft mehr als ein Reporter, auf jeden Fall anderes.
Rinko Kawauchi, 39, um eine Minute nach vier Tokioter Ortszeit.
Als wir sie Ende April anrufen, ist sie gerade in Tokio: »Ich will seit Tagen in den Norden«, sagt sie, »aber ich hatte Angst, den Helfern im Weg zu stehen und die Aufräumarbeiten zu behindern.« Sie ist dann doch gefahren, eine Woche lang, nach Ishinomaki und Kesennuma, nach Onagawa und Sendai, alles Orte, die vom Erdbeben und vom Tsunami verwüstet worden waren, alles Orte, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Als sie zurückkam, brachte sie diese Bilder mit. Typische Kawauchi-Bilder, die trösten und verstören – je nachdem, wie viel Fantasie und Mitgefühl noch in uns stecken.
Fotos: Rinko Kawauchi