Ich bin dann mal weg

Schauen Sie genau hin: Auf den chinesischen Künstler Liu Bolin blickt gerade die ganze Welt. Obwohl er sich so anmalt, dass er völlig in seinen Werken verschwindet.

Eigentlich müsste er sich das nicht antun. Es gibt leichtere Wege als Künstler, Illusionen zu erzeugen und den Betrachter hinters Licht zu führen. Es gibt Kinofilme, deren Welten von Rechnern erschaffen wurden, und die doch aussehen, als seien sie echt. Es gibt Photoshop. Doch Liu Bolin geht den schwierigen Weg. Er lässt sich anmalen, bis er mit dem Hintergrund verschmilzt. Helfer mit Pinseln schwirren um ihn herum, Passanten bleiben stehen. Bis alles stimmt, vergehen bis zu zehn Stunden. Dann drückt jemand den Auslöser. »Für mich erzählt ein Bild seine Geschichte durch das, was man nicht sieht«, sagt Bolin.

Mehr als hundert Mal hat er diesen Trick schon gemacht. Ein paar Mal so gut, dass man genau hinschauen muss, um Bolin zu finden. Die Fotos, die dabei entstanden sind, gehören zu einer Serie mit dem Titel Hiding in the City. Sie sind frappierend, weil sie diesen kindlichen Aah-Effekt erzielen. Doch wer die gesellschaftliche Situation in China nur ein wenig vor Augen hat, kann in diesen Bildern auch eine große Würde erkennen. Sie erzählen von einem Mann, der sich selbst zur Leinwand erklärt, weil der eigene Körper immer noch das größte Pfand ist in einer Gesellschaft, die das Kollektiv vor den Einzelnen stellt. Sie erzählen vom Kampf um individuelle Freiheit, um Bürgerrechte, und von der Angst, einfach zu verschwinden.

Bolin, 37, weiß, wie diese Angst sich anfühlt: Als er 2000 nach Peking kam, hatte er bereits eine Karriere als Kunstlehrer hinter sich in seiner Heimatprovinz Shandong. In Peking begann er ein Bildhauerei-Studium an der Kunstakademie, fand ein Atelier in einer Künstlersiedlung. Doch die Behörden hatten andere Pläne mit dem Gebiet. 2005 rückten die Bagger ein und walzten alles nieder. Auch Bolins Traum von einer kleinen Künstlerexistenz in der großen Stadt: »Ich fühlte mich ausgestoßen, überflüssig. Ich musste zeitweilig auf der Straße leben. Und ich spürte diesen unglaublichen Zorn in mir auf diese Form der Willkür.« Kurze Zeit später postierte er sich vor einer Mauer eines niedergerissenen Hauses und ließ sich zum ersten Mal anmalen. Auf die Mauer hatten die Behörden geschrieben: »Vereinheitlicht euren Geist«. Bolin gab nicht auf, er verschwand nicht.

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Mittlerweile hängen seine Bilder im Guggenheim Museum und wurden auf der ganzen Welt ausgestellt, auch in China. Der Kunstmarkt ist verrückt nach seinen Arbeiten, weil sie so gewichtig wie spektakulär sind. Dabei ist Bolin kein Rebell, Rebellen will sich China immer noch nicht leisten. Er hat seine Kritik an den Verhältnissen so gut versteckt, dass die Behörden damit leben können. Er kann es auch, sehr gut sogar. Bolin fährt jetzt Audi und macht Werbung für eine Schweizer Uhrenmarke. »Künstler«, sagt er, »sind keine Heiligen. Wir alle wollen ein besseres Leben. Auch das kann Unabhängigkeit bedeuten.«

Fotos: Liu Bolin; Courtesy: Eli Klein Fine Arts Gallery New York