»Sie dürfen unsere Namen nicht aufschreiben«, sagt die Frau gleich am Anfang, »wir sprechen nur, wenn wir anonym bleiben.« Es ist komisch, wenn man diesen Satz in einem Raum eines kirchlichen Gemeindezentrums hört. Noch seltsamer ist es, wenn dieser Raum mit gemütlichen Matten ausgelegt ist. Ein wenig Spielzeug liegt herum. Davon abgesehen, dass auf den Matten kreisförmig Kissen ausgebreitet sind, deutet nichts darauf hin, dass hier gleich ein Treffen stattfinden wird. Erst recht keines, dessen Inhalt der Geheimhaltung bedarf. Orte, an denen sich Menschen wie Don Vito Corleone oder John Gotti treffen, sehen anders aus. Trotzdem denkt man sofort: Aha, es stimmt also doch, was man hört. Die sind hier tatsächlich wie die Mafia.
Sechs Frauen bewegen sich im Raum, manche sitzen, manche stehen und jede hat ein Baby oder wenigstens ein Kleinkind bei sich. Zwei von ihnen sind Laktationsberaterinnen der »La Leche Liga«, sie zählen also nicht richtig, weil sie schon wissen, worauf es ankommt. Abgesehen von den Matten, dem Kissen und dem Spielzeug ist der Raum nahezu leer. Nur auf einem flachen Regal in einer Ecke des Zimmers steht eine Kiste voller Bücher. In der Kiste stecken die Standardwerke. Bücher im Namen der Sache, zum Ausleihen. Für ein Still-Treffen braucht man ja auch nicht viel Equipment, eigentlich nur jeweils zwei Brüste und ein Kind. »Sind wir uns da einig, was die Anonymität betrifft?«
Man kommt sich ein wenig bescheuert vor. Schließlich geht es doch nur um ein bisschen Milch.
Allerdings ist aus dieser Milch, genauer: Muttermilch, in bestimmten Kreisen in den letzten Jahren mehr geworden als ein Nahrungsmittel für kleine Menschen. Der im Grunde simple, recht schnörkellose Prozess des Die-Brust-Gebens ist zu einer Weltanschauung herangewachsen, und wehe der Frau, die es wagt, anderer Meinung zu sein, als der, dass man ein Kind stillen muss, und zwar am besten, bis es sich eigenhändig Stullen schmieren kann. Aus einer radikalen Splittergruppe, die man anhand ihrer Batik-T-Shirts und den langen Röcken ausmachen konnte, ist eine gesellschaftliche Unterströmung geworden. Heute sind sie viele. Sie tragen enge Leibchen von Bellybutton in dezenten Farben und praktische Hosen. Sie sind überall. Ihre Meinung klebt fester als angespeichelte Reiswaffeln, sie sind besessen von dem Glauben, wer nicht stillt, könne seinem Kind schließlich ebenso gut eine Flasche voller Tütensuppe verabreichen. Die Waffe dieser Mütter ist die gesellschaftliche Ächtung. Wenn jemand eine Flasche anstelle seiner Brust auspackt, heißt es: Leon, geh da weg!
Es gibt Leute, die sprechen in diesem Zusammenhang von Still-Faschismus. Andere nennen sie Still-Nazis. Man muss mit solchen Begriffen aufpassen, vor allem, wenn Eva Herman mitmischt.
»Ach ja, Eva Herman«, sagt die eine Laktationsberaterin nun. »Ein tolles Buch. Vielleicht das Beste überhaupt.« Das Buch von Eva Herman heißt Vom Glück des Stillens. Ursprünglich ist das Buch als Plädoyer für die Ernährung des Kindes mit der Brust gedacht, aber inzwischen ist es eine Kampfschrift für die Bewegung geworden, Propagandamaterial. »Beim Stillen erlebt die Mutter nicht nur mütterliche, fürsorgliche Gefühle, sondern durchaus auch erotische«, schreibt die Autorin etwa. Aber auch: »Nichtstillen darf keine Schuldgefühle verursachen.« Vielleicht ist es Eva Hermans Schicksal, immer ein bisschen anders verstanden zu werden.
Wer noch nie bei einem Still-Treffen war, muss sich das vorstellen wie eine Art Supervisionssitzung. Eine Frau formuliert ihre Probleme und hofft auf eine gemeinschaftliche Lösung.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Er hat schon Zähne und ich Angst, dass er mich beißen wird.)
»Er hat jetzt schon Zähne, und ich habe Angst, dass er mich beißen wird.«
»Interessant«, sagt die Laktationsberaterin, »was sind denn da so eure Erfahrungen?« Sie schiebt ihr Hemd hoch. Ihr Kind, anderthalb Jahre alt, hat Appetit. Später sagt sie: »Wenn eine Mutter sagt, ich möchte nicht stillen, dann sollte sie sich mal überlegen, ob sie überhaupt ein Kind möchte.« Aber man möge sie bitte nicht namentlich zitieren.
Von einer »zweigeteilten Gesellschaft«, spricht die Laktationsberaterin Denise Both: »Ist das Bildungsniveau der Frau eher niedrig, füttert sie häufig mit Flaschennahrung, da sie so ihren Lebensstil aufrechterhalten kann. Je höher jedoch das Bildungsniveau der Frau ist, je erfolgreicher sie ist, desto höher steigt auch die Stillquote.« Both macht den Job seit zwanzig Jahren, nebenher übersetzt sie medizinische Fachtexte ins Deutsche. Sie ist IBCLC, International Board Certified Lactation Consultant, und damit eine der wenigen, die die Laktationsberatung professionell und nicht nur ehrenamtlich betreiben. Sie ist eine sehr nette Frau. Aber was sie sagt, klingt, als hätte sie schon die eine oder andere Brust zu viel gesehen: »Ich betrachte diese Mütter-Olympiaden mit Argwohn. Immer häufiger lerne ich Kinder mit Essstörungen kennen, weil die Mütter ihnen normale Nahrung vorenthalten, obwohl die ihnen mit sechs Monaten förmlich in den Teller springen.« Both hat beobachtet, dass im Internet regelrechte Wettbewerbe laufen. Wer stillt sein Kind am längsten? Wer nährt es am längsten ausschließlich mit Muttermilch? »Es gibt nur noch Extreme, in die eine oder andere Richtung.«
Stillen war nie eine Sache, die man machte, weil man ein Kind hatte und eben die passenden Brüste dazu. Schon an den Höfen ägyptischer Pharaonen waren Ammen für die Ernährung der Kinder zuständig. Es heißt, dass sich um die Stelle der Amme für Kaiser Napoleons ersten Sohn 1200 junge Frauen bewarben. Wer sich keine Amme leisten konnte, ernährte sein Kind mit »Mehlmus«, einer Art dünner Getreidesuppe, die eine hohe Säuglingssterblichkeit nach sich zog. Im ausgehenden 18. Jahrhundert sorgte Jean-Jacques Rousseaus »Zurück zur Natur!« für eine kurze Milch-Welle, bevor Frauen der oberen Schichten das Selbststillen als
zu beschwerlich wieder aufgaben. »Die Weiber schmeichelten sich, nachdem Rousseau die Natur zur Mode gemacht hatte, durch Säugen zu interessieren, und Mutterliebe wird zur Mode und Koketterie«, notierte ein Zeitzeuge.
Wie es aussieht, war das Stillen immer schon weniger eine Frage der Liebe zum Kind, sondern eher ein Zeitgeistphänomen. Für die Frauengeneration, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Flasche griff, war das Nichtstillen auch Ausdruck eines Fortschrittswillens, des Glaubens daran, dass alles Gute aus der Zukunft kommt. Konserven, Einweckgläser, Flaschennahrung – das waren Versorgungsvisionen aus einer besseren Welt. Wer in Hinterhöfen Breichen selbst kochen und nebenher noch den Wäschetopf zum Kochen bringen muss, hat keine Muße, sich mehrmals am Tag halb nackt auszuziehen. Nicht, wenn eines der älteren Kinder den Job ganz einfach mit der Flasche erledigen kann.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Mein Körper gehört mir!" - In den Siebzigern wurde die Muttermilch zum Politikum.)
Spätestens aber in den Siebzigern wurde Muttermilch zum Politikum: »Mein Körper gehört mir!« – für Feministinnen war die Flaschennahrung Ehrensache und vor allem ein Statement gegen das Stillen als patriarchalisches Instrument zur Unterdrückung der Frau. Gleichzeitig entstand eine Bewegung, die die mütterliche Bindung zum Kind wieder mehr ins Zentrum rückte. Nicht nur Brüste, auch Waldorfschulen, Biokost und Zukunftsangst sorgten dafür, dass die Stillquote in Deutschland gegen Ende der Siebzigerjahre nicht gekannte Höhen erreichte. Muttermilch als erlösender Faktor, das ist etwa für Eva Herman ein logischer Gedankengang. Auf öffentlichen »Gebetsfrühstücken« erzählt sie, wie aus ihrem neun Monate altem Sohn ein echter Kerl wurde, nachdem ihm ein Stück Gurke geklaut wurde: »Er hat so geweint. Da habe ich ihn kurz angelegt, er hat ein paar Mal gesaugt und sich beruhigt. Dann ist er losgekrabbelt, hat dem Dieb die Gurke weggerissen und ihm eine Ohrfeige verpasst.« Die Milch macht’s. Offenbar ist an dem Werbespruch wirklich etwas dran.
Als kürzlich während einer Plenarsitzung die Berliner SPD-Abgeordnete Stefanie Winde ihr Baby in der ersten Reihe stillte, wurde sie in die hinteren Reihen verwiesen: »Solch ein Verhalten ist nicht angemessen.« Gleichzeitig gilt das Stillen als ultimative Auszeichnung der guten Mutter. Richtige Hardliner treffen sich in Internetforen wie beispielsweise »Stillen-und-Tragen.de«. Eine Frau, die sich »MissChippy« nennt, schreibt dort etwa einen »Liebesbrief an mein Stillkind«. Von unvergesslich »genüsslichem Schmatzen und Saugen« ist darin die Rede und davon, wie das Kind »meine freie Brustwarze gezwirbelt (hat) *autsch* – ich habe jeden Moment genossen«. Aber es wird noch poetischer: »Ich liebe es, wenn du im Vorbeigehen mal schnell auspackst«, schreibt MissChippy, »ich liebe deine kleinen nassen Küsschen, wenn du meine Brust morgens im Bett wachküsst, und Dein zufriedenes Grinsen, wenn du andockst und genussvoll die Milch trinkst.« Das betreffende Kind ist über zwei Jahre alt und heißt Malte Torben.
Die Alternativen zur Brust heißen Aptamil, HA Plus oder Milumil. Die Namen klingen ein wenig technisch, aber in Zeiten, als Muttermilch wegen der hohen Belastung durch Schwermetalle als veritables Mordinstrument galt, fütterten Mütter, die etwas auf sich hielten, ihr Kind eben mit Pulvermilch. Und beinahe hätte die Pulvermilch den Busen überflüssig gemacht. Dann startete die Regierung ein Brust-Rettungsprogramm, dessen Vorsitz den Titel »Nationale Stillkommission« trägt. Die Kommission ist zum Beispiel dafür zuständig, »Initiativen zur Beseitigung von Stillhindernissen« zu unterstützen und das »Stillen in der Bundesrepublik Deutschland zu fördern«. Es hat etwas gebracht, so weit man das sagen kann. Inzwischen gibt es zum Beispiel das Zertifikat »Stillfreundliches Krankenhaus«. Immer mehr Klinikchefs möchten sich das an die Wand nageln.
Es gibt keinen Zweifel, dass Stillen für das Kind das Beste ist. Aber es ist möglich, dass die Vorzüge nicht ganz so gravierend sind, wie es die Still-Mafia einen glauben machen will. Ein höherer IQ durch Muttermilch, ein geringeres Risiko für Leukämie, Diabetes oder einen erhöhten Cholesterinspiegel – all das ist, je nachdem, welche Studie man liest, nun ja, unklar. Auch der Schutz vor Allergien, allgemein ein Totschlagargument, ist nicht erwiesen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Schützt Stillen vor Übergewicht und Allergien?)
»Stillen schützt vor Übergewicht, das ist erwiesen«, sagt Dr. Mathilde Kersting vom Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. »Aber was die Allergien betrifft, kann ich dem nicht zustimmen. Nach den neuesten Erkenntnissen dürfen die Kinder spätestens ab dem sechsten Monat alles zu sich nehmen, sofern maßgehalten wird. Eine abwechslungsreiche Ernährung ist das Einzige, was Allergien tatsächlich vorbeugen kann.« Das hindert natürlich niemanden daran, einem Vorwürfe zu machen, wenn man seinem Kleinkind Erdbeeren zum Naschen gibt: »Ach, herrje«, heißt es dann, »der kleine Schatz bekommt sicher mal
Neurodermitis.«
Die Insignien der neuen Über-Mütter sind nicht nur ihre Brüste. Wer dabei sein will, muss den richtigen Kinderwagen fahren, biodynamische Snacks bei sich tragen und sich für die anatomisch korrekteste Tragehilfe entschieden haben. Mütter, die etwa den Babybjörn benutzen (»Du Ärmste, hast du noch nie von der Spreiz-Anhock-Position gehört? Mit dem Ding hier leierst du dem Kind die Hüftgelenke aus«) oder dem Kind das milchschorfige Haar mit Shampoo waschen (»Bitte, tu das nicht! Du zerstörst den natürlichen Schutz!«), erlangen in etwa das gleiche gesellschaftliche Ansehen wie jene Frauen, die ihre Kinder zwei Tage in die Wohnung sperren, damit sie mal wieder richtig tanzen gehen können.
Was die Still-Faschisten gar nicht abkönnen, sind Argumente: Wenn eine Frau alleinerziehend und in der Ausbildung ist, ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper hat, ist das noch lange kein Grund, nicht zu stillen. »Die Beziehungsverweigerung«, sagt eine der Frauen beim Still-Treff, »das ist es, was mich stört. Es ist doch komisch, wenn jemand ein Kind haben will, aber die Dinge, die mit einem Kind kommen, ablehnt.«
Radikalismus wird aus Mangel geformt. Nicht unwahrscheinlich, dass auch bei den Still-Faschisten ein psychologisches Problem Ursache ist: »Ich bin ein typisches Entfernungskind«, sagt die Laktationsberaterin nun in dem kleinen Raum im Gemeindehaus, »erst die Flasche, dann ein eigenes Bett, und dann auch noch der Kinderwagen. Manche Frauen können sich durch das Stillen auch heilen.« Der Glaube ist stark, dass vollkommenes Glück nur an der Mutterbrust entsteht: »Wäre ich gestillt worden, wäre ich weniger kontaktscheu und mein Mann hätte mich nicht verlassen« funktioniert genauso wie »Hätte ich mehr Körpernähe erfahren, wäre ich selbstbewusster und beruflich erfolgreicher«. Mit dem Tatbestand des Stillens kann man ein ganzes Universum erklären, in dem sich alles um zwei große, tropfende Brüste dreht.
Der Still-Treff ist fast zu Ende. Das Thema »Väter und Stillen«, das für heute eingeplant war, wird nur sehr kurz behandelt.
»Was können Väter denn zum Stillen beitragen?«, fragt die Laktationsberaterin.
»Sie können für uns kochen!«
»Richtig, das hilft sehr. Was noch?«
»Sie können einkaufen gehen oder mal die Füße massieren.«
Vielleicht liegt es an der Luft. Stillhormone, das ist wissenschaftlich erwiesen, vernebeln einem den Verstand. Aber eigentlich möchte man sich sofort ausziehen. Dieses gemütliche Beisammensitzen, trinken und reden, das kennt man ja sonst nur von Stammtischen.
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Ihre erste Begegnung mit Still-Extremismus hatte Susanne Frömel, als sie beschloss, ihren Sohn abzustillen, um eine kurze Recherchereise anzutreten. "Wie alt ist er denn? Erst zehn Monate? Der Arme! Na, dann spar schon mal für die Psychotherapie", so der Kommentar einer Mutter auf dem Spielplatz. Nichts geschieht mehr beiläufig, über jede Entscheidung wacht heute eine Schwadron hyperaufgeklärter Mütter. Für Frauen, die Probleme beim Stillen haben, sind die Stillberaterinnen der La Leche Liga trotzdem eine gute Anlaufstelle.
Fotos: Wiebke Bosse