»Rinder und Schweine verstehe ich sehr gut. Bei Hühnern klappt es nicht so.«

Temple Grandin ist Autistin. Menschen sind ihr fremd, aber sie fühlt, was Tiere fühlen. Deshalb entwickelt sie neue Methoden, sie zu töten.

Der Bolzenschuss ist das Ende. An dem kann Temple Grandin nichts ändern. Der Schuss kommt. Grandin interessiert sich für das, was davor kommt. Sie entwirft Schlachthöfe, sie legt fest, auf welchem Weg die Rinder ihren Tod finden. Sie sagt, sie verstehe die Gefühle der Tiere, sie kenne ihre Ängste. Grandin ist Autistin. Und sie ist ein sogenannter Savant, sie hat eine Inselbegabung, wie man sagt. Ihre Insel sind die Tiere, in die sie sich hineinfühlen kann wie niemand sonst. Grandin ist Professorin für Tierwissenschaften an der Colorado State University. Vor allem aber berät sie Viehzuchtbetriebe. Inzwischen laufen die Hälfte aller Rinder in den USA durch Zuchtanlagen und Schlachthöfe, die Grandin entworfen hat; manche nennen sie deshalb »Cow Killer«. Grandin hat nichts gegen das Schlachten, aber sie will, dass die Tiere keine Schmerzen leiden. Ihr jüngstes Buch Animals Make Us Human landete auf der Bestsellerliste der New York Times. Das Time Magazine zählte Temple Grandin im April zu den 100 einflussreichsten Menschen weltweit, ein Spielfilm über ihr Leben (mit Claire Danes in der Hauptrolle) gewann im August fünf Emmys.

SZ-Magazin: Was haben Sie mit einer Kuh gemeinsam?

Ich nehme die Welt in Bildern wahr, nicht in Worten. Und ich bin immer auf der Hut. Das stärkste Gefühl bei Tieren ist Angst, und das ist auch das stärkste Gefühl bei Autisten.

Was macht Ihnen Angst?
Plötzliche, heftige Bewegungen oder laute, schrille Geräusche. Meine Nerven sind extrem empfindlich. Autisten erschrecken vor den gleichen Dingen wie Rinder: vor hohen Tönen, reflektierenden Gegenständen, Dunkelheit. Sachen, die in der Wildnis Gefahr bedeuten. Auch wenn ich nicht danach suche, nehme ich zum Beispiel automatisch Löcher in Zäunen wahr, also Fluchtwege, wie ein gefangenes Tier.

Verstehen Sie manche Tiere besser als andere?

Rinder und Schweine. Mit Hühnern klappt es nicht so gut.

Sie sagen, Tiere und Menschen besäßen dieselben Grundemotionen. Da würde Ihnen jeder Haustierbesitzer zustimmen, jedoch nicht jeder Wissenschaftler.
Bis heute glauben sogar einige Tierärzte und Forscher nicht, dass Tiere Gefühle haben. Das Erste, was ich denen sage, ist, dass Antidepressiva, die für Menschen entwickelt wurden, auch bei Tieren funktionieren. Wenn Sie das Hirn eines Schweins sezieren, können Sie in der unteren Hirnhälfte praktisch keinen Unterschied zum menschlichen Gehirn feststellen. Die Grundemotionen sind die gleichen: Wut, Angst und Panik zum Beispiel.

Wie unterscheiden sich Ihre Gefühle von denen anderer Menschen?

Ich werde wütend, ich kann plötzlich laut lachen oder weinen. Aber romantische Glückseligkeit kenne ich nicht. Meine Gefühle sind weniger komplex.

Wissenschaftler streiten sich bis heute, was Autismus eigentlich ist.

Stellen Sie sich mein Gehirn wie einen riesigen Bürokomplex vor. Normalerweise sitzen da oben ein Vorstandsvorsitzender und sein Team, darunter Abteilungen für Finanzen, Buchhaltung, Personal, Recht und so weiter. All diese Abteilungen kommunizieren ständig miteinander über E-Mail, Telefon, Fax, Konferenzen. In meinem Kopf sind einige dieser Kabel nicht angeschlossen. Die autistische Hirnrinde ist oft stark überwachsen, das kann man mit einem Kabelsalat vergleichen, in dem es dann zu Kurzschlüssen kommt. Dass es so viele verschiedene Arten von Autismus gibt, liegt daran, dass immer andere Abteilungen angeschlossen sind.

Was bedeutet das bei Ihnen?

Einige Dinge kann ich einfach nicht besonders gut. Die Grafikabteilung in meinem Gehirn ist zum Beispiel überbeschäftigt, die Abteilung für Sozialverhalten aber unterentwickelt. Ich musste erst lernen, mit Menschen umzugehen.

Wie haben Sie das geschafft?

Indem ich beobachte, wie andere Menschen miteinander umgehen, sie wie mit einem Videorekorder im Gehirn aufzeichne und dann bei Bedarf das richtige Verhalten abspiele. Worte sind wie eine Fremdsprache für mich. Ich übersetze alles, was ich höre und lese, in Bilder und in Farbfilme mit Ton. Mit Menschen umzugehen ist für mich wie eine Rolle in einem Drehbuch. Je mehr Filme ich in meiner Gehirnbibliothek gespeichert habe, desto normaler verhalte ich mich.

Sie sagen, Autismus sei eine Art Zwischenstation auf dem Weg vom Tier zum Menschen. Wie meinen Sie das?

Autistische Inselbegabte können sich zum Beispiel optische Details perfekt einprägen, etwa wenn sie mit einem Hubschrauber über ein Gebiet fliegen – wie Zugvögel. Andere haben ein unfehlbares Gedächtnis – wie ein Hund. Manche Savants haben einen IQ wie geistig Behinderte, aber sie können Dinge tun, die normale Menschen nicht können – wie sehr sie es auch versuchen. Ich kann zum Beispiel ganze Zuchtanlagen in meinem Kopf probelaufen lassen, in dreidimensionalen Bildern. Andere brauchen dafür teure Animationen und kriegen es dann doch nicht so gut hin.

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Sie haben für Ihre Arbeit am Anfang Spott geerntet und werden nun als Genie gefeiert.
Der Anfang war hart. Damals war Viehzucht ein reines Macho-Geschäft. Was heute als sexuelle Belästigung bezeichnet wird, ist nichts gegen die Sachen, die ich erlebt habe. Als ich einmal eine Futterstation besuchte, kastrierten sie dort gerade Bullen, und als ich wieder loswollte, lagen haufenweise Bullenhoden auf meinem Auto. Ich bin einfach davongefahren, ohne einen großen Aufstand zu machen. Das hätten sie wohl gern gehabt.

Manchmal weine ich den ganzen Weg vom Schlachthof bis zum Flughafen.


Sie können denken und fühlen wie ein Tier. Und trotzdem verbringen Sie Ihr Leben damit, Schlachthäuser zu entwerfen oder die Hühnerfabriken von McDonalds zu kontrollieren.

Manchmal weine ich den ganzen Weg vom Schlachthof bis zum Flughafen. Als ich das erste Mal eine Hühnerfarm besucht habe, war es Aaaaaaaahhhh! Viele Hühner hatten gebrochene Flügel, die Arbeiter haben sie einfach an einem Flügel gepackt und herumgeworfen. Die alten Legehennen, die schon kaum mehr Eier legen konnten, waren ganz kahl, manche wurden einfach in den Müll geworfen. "Was glauben Sie, was Ihre Kunden sagen würden, wenn sie das hier sähen?" habe ich den Direktor gefragt. Heute haben weniger als fünf Prozent der Hühner gebrochene Flügel.

Sind Sie Vegetarierin?
Nein.

Haben Sie einmal daran gedacht, Tierärztin zu werden statt Schlachthof-Designerin?
Sie können ein System ablehnen, damit gewinnen Sie aber nichts. Oder sie arbeiten an dem System und machen es besser. Wir müssen diesen Tieren ein anständiges Leben bieten. Viele Leute vergessen, dass die Wildnis auch ziemlich hart ist. Ein Hirsch, dem ein Löwe die Eingeweide herausreißt, stirbt sehr brutal. Ein moderner Schlachthof bedeutet in vieler Hinsicht einen einfacheren Tod. Meine Schlachthäuser sind so konstruiert, dass die Tiere nicht wissen, was mit ihnen passiert. Da gibt es keine Angst, keine Panik.

Wie haben Sie Ihre besondere Liebe zu Rindern entdeckt?
Als Teenager hat mich meine Mutter auf die Ranch meiner Tante Ann nach Arizona geschickt. Ich habe zugesehen, wie die Rinder zum Impfen in eine Haltevorrichtung geführt wurden. Die Außenwände drückten auf den Körper der Rinder. Da haben sie sich sofort entspannt. Das wollte ich auch. Ich habe mich immer danach gesehnt, umarmt zu werden, aber ich konnte es einfach nicht aushalten. Ich habe meine Tante überredet, mich in diese Vorrichtung zu lassen, und es hat tatsächlich funktioniert: Ich wurde viel ruhiger. Ich habe mir dann meine eigene Umarmungsmaschine gebaut.

Wie sieht die aus?

Die erste habe ich aus Sperrholzplatten zusammengeschraubt, meine jetzige ist ein Luxusmodell mit Schaumkissen. Ich krieche auf allen vieren in die Maschine, mit den Zehen kann ich den Druck steuern. Da bleibe ich eine halbe Stunde drin, danach bin ich den ganzen Tag entspannter. Meine Lehrer und meine Mutter wollten sie mir wegnehmen, weil sie dachten, ich spinne. Aber ich war so süchtig nach diesem Gefühl – ich wollte sie um nichts in der Welt wieder hergeben.

Heute gehört eine solche Stimulierung bei autistischen Kindern zur Therapie, auch bei hyper-nervösen Tieren wie Pferden.

Als ich jünger war, wollte ich ganz starken Druck, fast so sehr, dass es wehtat. Dann ging es immer sanfter und sanfter. Die Maschine macht mich zu einem netteren Menschen – ohne sie wäre ich ein harter, kalter Fels.

Sie meinen, sie hilft Ihnen, menschlich wärmer zu sein?
Ich brauchte diese körperliche Erfahrung, um Zuneigung empfinden zu können.

War Ihnen als jungem Menschen schon klar, dass Sie anders sind als andere?
Ich war wie eine wilde Katze; wenn ich angefasst wurde, hat das einen Fluchtimpuls in mir ausgelöst. Ich habe nicht gesprochen, bis ich dreieinhalb Jahre alt war. Ich hatte stundenlange Wutanfälle, habe ewig ins Leere gestarrt oder meinen eigenen Kot an die Tapeten geschmiert.

Erinnern Sie sich daran, oder haben Ihnen das Ihre Eltern erzählt?
Ich erinnere mich, dass ich als Kind mit zwei oder drei Jahren furchtbar frustriert war, weil ich mich nicht mitteilen konnte. Ich verstand, was andere zu mir sagten, brachte aber selbst kein Wort heraus. Meine Mutter hat mir zum Beispiel mal einen Hut aufgesetzt, und ich konnte ihr nicht sagen, dass ich den nicht mochte. Also habe ich einen Tobsuchtsanfall bekommen und den Hut aus dem Fenster geworfen. Ich weiß auch noch, dass ich einmal eine Lehrerin so fest ins Bein biss, dass sie blutete. Solche Wutanfälle kamen ganz plötzlich, ich war machtlos dagegen. Erst als ich das Blut an ihrem Bein sah, wurde mir klar, dass ich sie gebissen hatte.

Mein Vater hätte mich am liebsten weggegeben.

Wussten Ihre Eltern, dass Sie autistisch sind?
Die Diagnose Autismus kannten damals die wenigsten Ärzte. Sie hielten mich für hirngeschädigt und empfahlen meinen Eltern, mich in ein Heim zu geben.

Was hat Sie vor dem Heim bewahrt?
Meine Mutter wollte mich nicht weggeben. Sie hatte bemerkt, dass ich sehr musikalisch war und mitsummte, wenn sie Bach auf dem Klavier spielte. Sie hat ein Kindermädchen und Sprechtherapeuten engagiert, die mit mir genau das gemacht haben, was man heute mit autistischen Kindern macht: stundenlang mit mir gespielt, mich rausgeholt, mir so lange das Wort »Ball« vorgesagt, bis ich »Ball« nachsagen konnte.

Und Ihr Vater?
Er hätte mich am liebsten weggegeben. Ich glaube inzwischen, dass er selbst autistische Züge hatte. Er war ein wortkarger, in sich gekehrter Mensch und hat meine Mutter verlassen, als ich 14 war.

Trotz allem haben Sie es auf eine normale Schule geschafft.
Aber je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es, sozial ausgestoßen zu sein. Ich wusste nicht, warum ich im Umgang mit Menschen so ein Knallkopf war. Die anderen Kinder haben mich gehänselt, mich »Kassettenrekorder« gerufen, weil ich immer alles wiederholte, »Idiot« oder »Knochen«, weil ich so dürr war. Ich habe mich dann geprügelt und bin sogar von der Schule geflogen, weil ich jemandem ein Buch an den Kopf geworfen habe.

Wie sehr beeinflusst Autismus immer noch Ihr Leben?
Das fängt bei der Kleidung an. Ich halte es nicht aus, kratzige Sachen auf meiner Haut zu spüren. Alles, was neu ist, muss mindestens zehnmal gewaschen werden, ehe ich es trage. Raue Hosen fühlen sich für mich an wie Sandpapier auf blankliegenden Nerven. Röcke sind ein Unding – ich finde es unerträglich, wenn sich die nackten Beine aneinander reiben.

Dennoch reisen Sie heute ständig, halten weltweit Vorträge. Wie halten Sie das aus?
Ich spiele im Geist vorher alle Szenarien durch, auch einen Notfallplan, wenn zum Beispiel das Flugzeug Verspätung hat. Aber ich gerate immer noch in Panik, wenn ich mit unvorhergesehenen gesellschaftlichen Situationen konfrontiert werde und schnell darauf reagieren soll oder wenn ich in fremde Länder reise.

Wie bekämpfen Sie die Angst?
Ich nehme Antidepressiva, ohne die ginge es nicht.

Sie leben allein auf einer Ranch in Colorado. Haben Sie sich nie verliebt?
Nein. Ich kann mir das nicht vorstellen.

Warum nicht?
Bis heute verstehe ich nicht wirklich, was persönliche Beziehungen bedeuten. Ich bin Single geblieben, weil es mir hilft, diese vielen komplizierten sozialen Situationen zu vermeiden, mit denen ich überfordert bin. Mir fehlt einfach der Zugang. Ein Sonnenuntergang berührt mich nicht in der Weise, wie er andere berührt, ich kann nur intellektuell erschließen, dass er schön ist.

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie ein glücklich verliebtes Paar sehen?
Ich nenne es ISP, ein interessantes soziales Phänomen. Ich erinnere mich, dass die gleichaltrigen Mädchen in der Schule immer ausflippten, wenn die Beatles auf dem Bildschirm auftauchten. Ich dachte mir: Klar, Ringo ist ganz hübsch, aber ich werfe mich deshalb doch nicht schreiend auf den Teppich! Diesen Teenager-quatsch habe ich einfach übersprungen.

Sind Sie traurig, weil das in Ihrem Leben fehlt?
Ich habe andere Dinge, die sonst niemand hat. Zum Beispiel kann ich Probleme lösen. Die Menschheit braucht auch Menschen, die Probleme lösen.

Wenn ein Arzt morgen ein Medikament erfände, womit Autismus geheilt werden könnte – würden Sie es nehmen?
Nein. Autismus ist das, was mich ausmacht. Ich würde meine Fähigkeit, in Bildern zu denken, nicht aufgeben wollen, und es macht mir enorm viel Spaß, Probleme zu lösen. Ich habe meinen Platz gefunden.

Foto: (1)dpa (2)ap