Einen Moment noch. Gleich kommt hier die definitive Antwort, handlich komprimiert auf fünfzig Zeilen: was die Nullerjahre waren, was sie nicht waren, und wie die Menschheit in ferner Zukunft auf dieses auslaufende Jahrzehnt zurückblicken wird. Klingt vielversprechend, oder? Andererseits: Diese Art von Versprechen ist natürlich selbst schon das Problem.
Bloß weil die »Roaring Twenties« und die »Swinging Sixties« irgendwann einmal griffige Formeln waren, stehen jetzt alle Jahrzehnte unter Erfolgsdruck: Schätzungsweise 3650 Tage und 87 600 Stunden sollen sich am Ende eines weltgeschichtlich völlig willkürlichen, nur auf unseren Kalendern markierten Ablaufdatums wie von selbst bündeln und sinnvoll zusammenfassen, sollen sich zu einem Motto oder Trend verdichten, sollen in der ewigen Abfolge der Dekaden bitte schön ein eigenes Profil entwicklen. Na dann viel Spaß. Trotzdem diese Sehnsucht: der gerade abgelaufenen Zeit sofort ein Zeugnis auszustellen, ihr einen Stempel aufzudrücken oder ein Adjektiv anzuhängen. Und wenn alles weder roaring noch swinging war und in größerem Stil vielleicht überhaupt keinen Sinn ergeben hat, dann lässt sich auch dafür noch ein Wörtchen finden. Der Spiegel zum Beispiel erfand das »verlorene« Jahrzehnt. Anderen wird schon auch noch was einfallen.
Natürlich gibt es übergreifende, beschreibbare Entwicklungen in der Politik, in Kultur und Wissenschaft. Die haben sich aber noch nie an runde Kalenderdaten gehalten. In der Popmusik zum Beispiel dominiert eine historische Schule, die in Elf-Jahres-Schritten zählt. Der letzte große Einschnitt nach dieser Rechnung war 1999 der Siegeszug von Napster, der den zügellosen Musiktausch im Internet heraufbeschwor.
Da würden die Nullerjahre dann glatt übersprungen. Sind sie deshalb verloren? Und verloren wofür? Tatsächlich drängt sich doch das Gefühl auf, dass eher die Dekaden davor schändlich vertan wurden: Jahrzehnte voller Raubbau an der Umwelt und an den natürlichen Ressourcen, Jahrzehnte voller hochfliegender Missachtung gegenüber den simpelsten Regeln des Geld- und Warenverkehrs, Jahrzehnte voller absurder imperialistischer Einmischungspolitik in den Krisenregionen der Welt.
Der 11. September 2001 und der islamistische Terrorismus, gleich zwei große Börsencrashs, die Klimakatastrophe – all das sind offene Rechnungen der letzten zwanzig, dreißig, vierzig, hundert Jahre, die nun langsam präsentiert werden. Ums Bezahlen werden wir kaum herumkommen, und eine Dekade reicht dafür bei Weitem nicht. Vielleicht sollten wir besser mal anfangen, in Jahrhunderten zu denken.
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