Ich weiß, dass ich vergewaltigt wurde. Aber das Merkwürdige ist: Wenn meine Schwester nicht auch vergewaltigt worden wäre, wenn sie sich nicht mehr daran erinnern könnte, wenn nicht der Polizeibericht vor mir auf dem Schreibtisch läge, könnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es überhaupt je geschah. Die Erinnerung daran fühlt sich ein wenig an wie ein Traum. Die Bilder sind verschwommen.
Ich kann mich zwingen, mich an bestimmte Details dieses Tages im Jahr 1973 zu erinnern. An die Stunde, in der ein Vergewaltiger eine Pistole auf mich und meine Schwester Sara gerichtet hielt, als sie 14 war und ich 15. Daran, dass wir dachten, das sei nur ein Scherz, bis er drohte, uns zu töten.
Wir waren allein im Haus. Meine Schwester erinnert sich daran, wie wir im Gänsemarsch die enge Treppe hinaufgingen, die Pistole immer auf unseren Rücken gerichtet. Ich erinnere mich an den Schmerz, als hätte mir jemand eine Waffe aus Beton eingeführt und meine Haut aufgerissen – erst nur ein paar Kratzer, dann Schrammen und Schürfwunden. Ich erinnere mich, dass ich dachte: »Tu, was er sagt, dann überleben wir das. Nicht schreien, keinen Widerstand leisten.«
Als er weg war, meinte ich zu Sara, der Mann habe recht: Es wäre besser, wenn wir nicht zur Polizei gingen. Sara war ängstlicher als ich, aber auch aktiver. Sie ließ sich nicht beirren. Sie hob den Telefonhörer ab. Kein Freizeichen. Er hatte die Leitung im Keller durchgeschnitten – ein großes Rätsel. Wie hatte ein Vergewaltiger die Zeit, die Leitungen durchzuschneiden? Woher wusste er überhaupt, wo sie waren? Wie lange war er im Haus gewesen? Wie lange hatte er dieses Verbrechen geplant?
Die Ermittler, die den Fall bearbeiteten, gingen nicht gerade mit Feuereifer daran; teils, weil sie wohl nur schwer glauben konnten, dass der Täter wirklich ein Unbekannter für uns war. Eine Vergewaltigung, wie wir sie schilderten, kam in unserer kleinen Stadt nicht vor – so dachten sie jedenfalls. Es gibt zum Beispiel Aktennotizen von Gesprächen mit unserem Vater: »Ich sagte zu Mr. Stern, dass ich den Eindruck habe, die Mädchen würden uns etwas verschweigen.« In den Notizen vom 13. Februar 1974 – vier Monate nach dem Verbrechen – ist zu lesen: »Persönlicher Besuch. Sprach mit Mr. Stern. Er hat nichts Neues zu berichten. Er meint, dass beide Mädchen es inzwischen verdrängt hätten.« Die Polizei nahm die Aussage meines Vaters zum Anlass, die Ermittlungen einzustellen, und der Täter wurde nie gefunden.
Die letzten zwanzig Jahre über habe ich nach den Ursachen für Verbrechen und Gewalt geforscht. Bis heute habe ich nie darüber nachgedacht, warum ich mich so sehr dafür interessierte oder warum ich zu dieser Arbeit fähig war. Ich wusste jedoch, dass ich mit jedem Jahr, das verging, immer weniger empfand: weniger Schmerz, aber auch weniger Freude. Als Kind wollte ich noch Schriftstellerin werden, doch das Thema Gewalt wurde immer verlockender. Ich war gleichzeitig davon abgestoßen und fasziniert. Am Ende wurde der Terrorismus mein Fachgebiet. Anfangs beschäftigte ich mich mit technischen Aspekten von Waffen und Bomben. Doch schließlich wurde ich so neugierig, dass ich begann, die Terroristen selbst zu interviewen.
Ich habe es geschafft, beim Zuhören weder Angst noch Schrecken zu verspüren noch innerlich ein Urteil zu fällen. Ich habe es geschafft, Dinge zu tun, vor denen andere zurückschrecken, wie nach Beirut oder Lahore zu reisen, um mich dort mit gefährlichen Männern zu treffen. Andererseits erschütterten mich Situationen, die andere nicht als bedrohlich empfanden, wie zum Beispiel das Krachen von Feuerwerkskörpern.
Ich ging zu einer Therapeutin – nicht weil ich so wenig fühlte, sondern weil ich meine Empfindungslosigkeit noch steigern wollte. Sie sagte mir, dass einige der Charakterzüge, die ich für angeboren hielt – darunter auch meine Sensibilität – Zeichen für ein Trauma seien. Sie sagte, dass ich an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden könnte.
Ich wusste durch meine Arbeit mit Soldaten über PTBS Bescheid und dachte nicht im Traum daran, dass meine eigenen Erlebnisse ähnliche Symptome hervorgerufen haben könnten. Ich hatte die Erinnerung an meine Vergewaltigung vor langer Zeit beiseitegeschoben. Ich sah das Thema als abgeschlossen an, als geklärt. Statt Grauen zu empfinden, studierte ich das Grauen.
Dann kam im Herbst 2006 ein Anruf der Polizei: Sie wollten unseren Fall wieder aufrollen. Einer der Beamten, Lieutenant Paul Macone, sagte mir, seiner Meinung nach sei der Täter noch aktiv und auch für andere Vergewaltigungen verantwortlich. »Nicht jedes Opfer einer Vergewaltigung will sich erneut mit der Tat beschäftigen«, sagte Macone. Ich wollte. So wie ich in meinen Interviews verstehen musste, was die Terroristen zu ihren Taten bewegte, so meinte ich, meinen Vergewaltiger verstehen zu müssen.
Jetzt habe ich die Polizeiakte meiner Vergewaltigung vor mir, und das Lesen fällt mir schwer. Die Kopie ist schlecht, doch das ist nur eine Ausrede. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren – als müsste ich unter Wasser denken.
Beim Lesen überfällt mich ein heftiges Gefühl der Einsamkeit. Als Kind fühlte ich mich sehr allein. Unsere Mutter starb, als ich drei war. Wir lebten zunächst bei den Großeltern und zogen dort aus, als mein Vater knapp ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter wieder heiratete: Lisa, die ältere Schwester meiner besten Freundin aus der Kindergartenzeit. Die Ehe hielt nur sechs Jahre.
Als ich zwölf war, heiratete mein Vater ein drittes Mal. Als wir vergewaltigt wurden, war er mit seiner neuen Frau in Norwegen. Daran erinnere ich mich noch ganz genau. Es gab zwar jemanden, der auf uns aufpasste, aber an dem besagten Abend gingen wir wie üblich nach der Ballettstunde zu Lisa nach Hause. Lisa war irgendwo zum Essen eingeladen, aber meine Schwester und ich blieben dort. Wir mussten noch Hausaufgaben machen.
In der Akte entdecke ich etwas, woran ich mich erstaunlicherweise nicht mehr erinnern konnte: Als unser Hausarzt meinen Vater telefonisch informierte, dass seine beiden Töchter mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt worden waren, brach er die Reise nicht ab. Er kam nicht sofort zu uns nach Hause. Wie konnte ich das nur vergessen?
Als ich meinen Vater darauf anspreche, erklärt er mir, ihm sei gesagt worden, die Ärzte und die Polizei würden sich schon um uns kümmern. Er hatte geschäftlich in Norwegen zu tun, Lisa passte auf uns auf, und seine Rückkehr war sowieso drei Tage später geplant. Er geht anscheinend davon aus, dass ich, wenn ich den Grund kenne, weshalb er in Norwegen blieb, diesen auch verstehe und seine Entscheidung billige.
Es gibt andere Stellen in der Akte, die ich kaum glauben kann. Zum Beispiel habe ich der Polizei erzählt, jemand – vielleicht der Täter – habe einige Tage nach der Tat im Haus meines Vaters angerufen, sich als »Kevin Armadillo« ausgegeben und sich dabei als derjenige vorgestellt, der »dich gestern Nacht gevögelt hat«. Wie konnte der Täter mich im Haus meines Vaters finden? War ich damals hysterisch und erfand solche Dinge, um Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen? Ich hatte der Polizei auch gemeldet, dass ich kurz nach der Tat ein handschriftlich verfasstes Gedicht in meinem Zimmer gefunden hätte. Wie sollte jemand unbemerkt ein Gedicht ins Haus schmuggeln? Doch das Gedicht ist am Ende der Akte abgeheftet.
Als ich die Akte beiseitelege, wird mir klar, dass ich mehr über den Mann erfahren muss, der mich vergewaltigt hat. Ich hatte schon immer den Drang, Männer zu verstehen, die anderen Leuten Schmerzen zufügen; so als könnte ich sie im Zaum halten und meine Welt sicherer machen, wenn ich erst weiß, was sie dazu motiviert. Aber dieses Mal habe ich Hilfe. Paul Macone, mein Co-Schnüffler, will mir ein paar freigegebene Akten aushändigen. Seiner Meinung nach gibt es mehr als nur einen Fall, der dem meinen ähnelt.
Sobald wir den Täter ausfindig machen, will ich mit ihm sprechen. Weiter geht mein Plan nicht. Ich stelle mir keinen Fragenkatalog zusammen, wie ich es oft vor Interviews mit Terroristen mache. Ich male mir auch nicht aus, wie ich ihn auseinandernehme – nicht mit dem Messer, sondern nur mit einem festen Blick in die Augen.
Doch dann geht alles überraschend schnell. Paul schickt eine Mail mit dem Betreff »Fast fertig«. Er schreibt, die Tat sei zu 99 Prozent aufgeklärt. »Fühlen Sie sich nicht unter Druck gesetzt, den Stand der Ermittlungen verfolgen zu müssen, es sei denn, Sie wollen es«, steht da.
Und dann erhalte ich eine Mail mit dem Betreff »Fertig«.
»Ich weiß, dass ich nie geheilt sein werde«
Ich fühle mich wie zwischen zwei magnetischen Polen gefangen. Einerseits ist da die Neugier, andererseits das Gefühl von Müdigkeit. Paul hat genug Informationen gesammelt, also überwindet die Neugier meine Angst.
Als ich auf dem Revier eintreffe, zieht Paul Akten hervor und legt seine Ergebnisse dar. Ein Serientäter. Viele Opfer. Das Opfer, das nach mir und meiner Schwester kam, brachte sich um.
Der Vergewaltiger, sagt Paul, sei tot.
Tot.
Ich lasse es sacken.
Ich weiß, ich sollte erleichtert sein. Doch ehrlich gesagt bin ich enttäuscht. Das aber scheint mir so verrückt, so unnormal, so beschämend, dass ich es mir aus dem Herzen zwinge.
Einige Monate später schreibt mir Paul erneut. Er habe eine Kiste voller Dokumente aus der Gefängnisakte des Täters. Ich fahre wieder aufs Revier. In der Kiste befinden sich Briefe, die mein Vergewaltiger geschrieben hat. Manchmal schreibt er sehr wortgewandt. Dann wieder scheint er an einer Schreibschwäche zu leiden. Paul stellt die Frage in den Raum: Hatte der Mann vielleicht eine gespaltene Persönlichkeit?
Ich berühre die Dokumente, die mein Vergewaltiger berührte; ein befremdlicher, intimer Akt.
Brian Beat, der Täter, war anscheinend verrückt. Man sah ihn splitternackt auf seiner Kloschüssel stehen. Man sah ihn Papier essen. Er wurde, nur zehn Tage nachdem er uns vergewaltigt hatte, wegen dreier zuvor begangener Vergewaltigungen zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl der Mann der Polizei bekannt war, zählte man nicht eins und eins zusammen.
Beat hatte, schon etliche Jahre bevor ich mit der Suche nach ihm begann, Selbstmord begangen, aber in den folgenden Monaten sprach ich mit vielen Leuten, die ihn kannten, und las Gefängnis-, Gerichts- und Polizeiakten. Die Polizei vermutet inzwischen, dass Beat zwischen 1970 und 1973 mindestens 44 Mädchen im Alter von neun bis 19 Jahren vergewaltigte. Die Vergewaltigungen geschahen mehrheitlich auf Mädcheninternaten oder in deren Nähe. Häufig traf es dabei zwei oder mehr Mädchen.
Diejenigen, die Beat in seiner Jugend kannten, beschrieben ihn als »hübschen« und »genialen« jungen Mann, der meistens »nett« war. Aber er konnte auch urplötzlich und grundlos gewalttätig werden. Obwohl die meisten seiner Verwandten und Freunde im Gespräch mit mir seine »nette« Seite betonten, erfuhr ich doch bald, dass man Mädchen in seinem Umkreis ermahnte, nicht mit ihm allein zu sein, und dass er versucht hatte, die Schwester seines besten Freundes zu vergewaltigen.
Ich kann nicht nachvollziehen, welche biochemischen, psychologischen oder sonstigen Faktoren Brian Beat dazu veranlassten, solche abscheulichen Taten zu begehen. Ich erfuhr allerdings, dass er selbst traumatisiert war: Er wuchs als Adoptivkind bei einer Tante auf, bis ihm als Teenager ein anderer Junge auf dem Schulhof erzählte – um ihn zu quälen –, dass die Frau, die er für seine Tante hielt, seine leibliche Mutter und seine Cousine seine Halbschwester war.
Er gehörte einer Kirchengemeinde an, die unter einer ganzen Reihe Pfarrer zu leiden hatte, die Missbrauch begingen. Es gab auch Gerüchte über sexuellen Missbrauch an seiner Schule. Über sexuellen Missbrauch durch Geistliche sprach man in den Fünfzigerjahren nur selten, und ich konnte keine einzige Anklage aus Beats Kinderjahren finden. Es lässt sich unmöglich feststellen, ob Gerüchte über einen Pädophilenkreis vor Ort damals zutrafen oder ob in den Fünfzigern Kinderschänder so systematisch in seiner Kirchengemeinde unterkamen wie in späteren Jahren. Aber die Polizeiberichte über einige von Beats Vergewaltigungen legen nahe, dass er irgendeine Art von Ritual befolgte – unter anderem das Drapieren von Steinen am Tatort.
Ich habe folgende Theorie: Andere zu terrorisieren – zum Beispiel durch eine Vergewaltigung – ist eine Möglichkeit, angesichts extremer Demütigung seine Männlichkeit zu behaupten. Terrorisiert zu werden ist demütigend. Vergewaltigt zu werden ist demütigend. »Wie eine Frau« behandelt zu werden ist demütigend. Eines der sexuell gefolterten Opfer aus Abu Ghraib klagte: »Sie haben uns wie Frauen behandelt.« Vergewaltigung ist eine Möglichkeit, seine Schande abzuladen. Doch das Gefühl der Schande ist, wie auch Angst, ansteckend. Die Schande und die Angst vor dem Vergewaltiger infizieren nun sein Opfer damit, das, je nach psychologischer und moralischer Belastbarkeit, seine Angst und Schande vielleicht auf ein neues Opfer ablädt.
Selbst ein Opfer, weiß ich, dass ich nie »geheilt« sein werde. Wie viele Menschen mit PTBS habe ich mich gegen die Diagnose gesperrt. Es schien mir zu absurd, dass ein Opfer sexueller Gewalt die gleichen körperlichen Symptome zeigen könnte wie ein Soldat, der aus dem Krieg zurückkehrt. Ich habe lang gebraucht, mich auf den Gedanken einzulassen und mich deswegen in Therapie zu begeben. Ich möchte lernen, meine Symptome zu verwalten – Techniken zu erlernen, um im Jetzt zu bleiben, nicht nur in Gedanken, sondern auch in den Empfindungen. Zu erkennen, dass Gefahr oder Stress zur Sucht werden können. Die Auslöser und die eigenen Reaktionen darauf zu erkennen.
Ich werde oft gefragt, ob ich bei der Erforschung gewalttätiger Menschen meinen Glauben an die menschliche Natur verloren habe. Das habe ich nicht. Im Gegenteil, wenn man die schrecklichen Dinge betrachtet, die Menschen zum angeblichen Wohle der Menschheit begehen, schätzt man die Aussicht auf das Gute umso mehr. Aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die glauben, dass das Böse nicht existiert. Ich weiß, dass es Wirklichkeit ist.
Was ist mit der Grausamkeit einer Vergewaltigung? Was ist, wenn der Täter geisteskrank ist? Was, wenn er traumatisiert wurde? Ich will damit nicht sagen, dass wir die Täter nicht für ihre Verbrechen zur Verantwortung ziehen sollten. Das müssen wir, schon allein um weitere Gewalttaten zu verhindern. Aber ich halte es für wichtig, zwischen verschiedenen Ausprägungen des Bösen zu unterscheiden, damit wir abscheuliche Taten wie die eines Brian Beat begreifen können.
Nach 18 Jahren Gefängnis kehrte Beat in die Kleinstadt zurück, in der er aufgewachsen war. Er wohnte in einer Art Mauernische neben den Bahngleisen, trank, rezitierte Gedichte und sammelte Dinge wie Zigarettenkippen und Zeitungsausschnitte. Der Polizei wurde erst bewusst, dass er ein Sexualstraftäter war, als er sich mit einem Polizeibeamten anzulegen begann und man daraufhin seine Daten prüfte. Sein Fall war durch die Maschen geglitten.
Foto: Joel Benjamin