Comeback eines pappigen Zuckersafts

Sirup galt lange als Kindergetränk, heute ist es wieder schwer en vogue. Unsere Autorin erinnert das an eines der irrsten Ereignisse der Weltgeschichte: die große Sirupflut von Boston.

Foto: Maurizio Di Iorio

Das Comeback auf dem Getränkemarkt, mit dem ich am wenigsten gerechnet hatte, ist das des Sirups. Die längste Zeit war Sirup das Getränk von Kindergeburtstagen und Ferienlagern, Wasser mit Geschmack, das man halt hinunterkippte, wenn man Durst hatte. Oder man mixte mal Cocktails mit Grenadinesirup, um sie rot zu bekommen. Heute kann ich keinen Kaffee bestellen, der nicht mit irgendeiner Art von Sirup versetzt wäre, an jedem Bartresen gucke ich auf eine Batterie von Sirupflaschen. Auch der Coca-Cola-Konzern verkauft inzwischen Sirup. Der kommt in kleinen dunkelbraunen Flaschen, die einen an die Apotheke aus der Pippi-Langstrumpf-Folge erinnern, in der Pippi etwas kaufen will, das »gut ist gegen Keuchhusten oder Masern oder wenn einen die Mücken mal gestochen haben«. Nur dass in diesen Flaschen bekannte Softdrinks in Sirupform sind, Fanta, Sprite, Mezzo Mix.

Noch seien die Sirupe ein Pilotprojekt, heißt es aus dem Konzern. Man probiere »neue Lösungen« aus und wolle »dann diejenigen weiterverfolgen, die erfolgreich sind«, erklärt der General Manager von Coca-Cola Deutschland. Von den vielen neuen Produkten, mit denen man als Getränkekolumnistin zu tun hat, finde ich das eines der seltsamsten. Zum einen ist die aktuelle Sirupwelle ja deswegen entstanden, weil man hochwertige und gesunde Sachen trinken will, hergestellt aus selbst angesetzten Früchten oder Kräutern. Und ­Softdrinks verkörpern alles, was man eigentlich loswerden will, schlechten Zucker und künstliche Aromen. Dazu kommt das alte Sirup-Problem: Man nimmt entweder zu viel oder zu wenig. Ich zumindest habe es nicht geschafft, etwas zu mischen, das an Fanta oder Sprite herankommt.

Und war es nicht immer der Anspruch des Coca-Cola-Konzerns, Getränke zu produzieren, die einzigartig sind? Der Mythos von Rezepturen, die irgendwo geheimgehalten werden, ist genauso ein Teil der Marke wie der Geschmack. Und jetzt sollen sich alle ihr Fanta, Sprite oder Spezi selbst machen können? Immerhin, Cola gibt es noch nicht als Sirup. Oder ist das eine neue Entwicklung im Kapitalismus, dass nun auch Getränke dezentralisiert werden, so wie Wissen oder Währungen? Sind Fanta und Sprite auf Sirupbasis so eine Art Kryptodrinks, die man in die Hände derer auslagert, die sie herstellen?

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Wer sich mit dem süßen Zeug näher beschäftigt, stößt auf eine bizarre Katastrophe, die 1919 durch Sirup verursacht wurde. Damals standen in Boston riesige Tanks mit Melasse, jenem dunkelbraunen Sirup, der bei der Herstellung von Zucker anfällt. Den brauchte die Industrie als Süßungsmittel, aber auch zur Produktion von Rum. Einer der Tanks war so kaputt, dass er eines Tages explodierte. Eine gewaltige Sirupwelle ergoss sich und riss Häuser und Autos mit. Menschen starben oder wurden verletzt, die zähe Masse stand hüfthoch in den Straßen. Aber die Bostoner Sirupflut zog nicht nur enorme Schäden, sondern auch einen der aufwendigsten Zivil­prozesse der damaligen Zeit nach sich. In dem Prozess wurde auf­gearbeitet, was bei den Tanks schiefgelaufen war und wer dafür die Verantwortung trug. Und es wurden danach Gesetze erlassen, wie Unternehmen für Sicherheit an ihren Anlagen sorgen müssen. Wer hätte dem Sirup das zugetraut?