Ein Likör, der nach draußen schmeckt

Masticha, das ist der zu wenig beachtete Bruder des griechischen Ouzos. Unser Autor trinkt ihn am liebsten mit einer griechischen Freundin und lässt sich von ihr aus seiner Gemütlichkeit in die Ungewissheit der Nacht reißen.

Foto: Erli Grünzweil

Je mehr Locken im Spiel sind, desto mehr wird jeder Raum elektrisch aufgeladen. Ich meine das nicht physikalisch, sondern ästhetisch. Nach dieser Theorie könnte die Energie in dieser schummrigen Kaschemme im Erdgeschoss eines besetzten Hauses ein kleines Dorf antreiben. Der Zigarettenrauch unzähliger Partys hat sich in die Decke gefressen, eine tanzende Meute sorgt stetig für Energienachschub. Viele Männer und Frauen, viele dunkle Locken, dazu wummern Klänge der türkischen Saz, der griechischen Tsouras oder kehliges Arabisch zu donnerndem Bass, irgendwo scheppert Glas. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll, also schaue ich auf mein Handy, was die Leute neben mir provoziert, mich in die Mitte zu schubsen und zu umtanzen, alles dreht sich, ich sehe nur noch dunkle Locken, so muss es sich anfühlen, in einer Packung Spirelli gefangen zu sein. Der Sog drückt mich ins Zentrum, das auch die Quelle des Schepperns ist: Eine Frau hockt auf dem Boden und schmeißt unter Jubelschreien weiße Teller kaputt.

Das ist meine Freundin C. Sie ist Griechin, und für Griechen sind zerschlagene Teller die angemessene Reaktion auf eine gute Feier. C. schmeißt nicht nur Geschirr, sondern auch diese Partys namens »Mastika Sounds«. Masticha ist ein griechischer Likör, der mit dem duftenden Harz des Mastixstrauchs aromatisiert wird. Im Vergleich zu Ouzo ist Masticha der kleine Bruder, der etwas zu wenig umarmt wurde. C. ist immer auf der Seite der Underdogs, nicht nur beim Schnaps.

C. und ich haben einen Pakt: Wir verabreden uns nie weit im Voraus, immer spontan. Es kann sein, dass ich spätabends einen Anruf bekomme: Komm, wir gehen aus. Ein bisschen wie Bereitschaftsdienst. Wäre eine Lüge, wenn ich sage, ich würde gern losziehen. Ich bin mit 30 in einem Alter, wo gleichaltrige Freunde anfangen, ihre Freizeit in »drinnen« und »draußen« zu unterteilen. »Draußen« ist demnach nicht mehr der Ort, wo das Leben anfängt, sondern wo es endet. Mit 30 mutiert »draußen« zu einem Wagnis, auf das man sich physisch und psychisch vorbereiten muss. Eine Reise mit ungewissem Ausgang. Frodo hätte keinen seiner haarigen Hobbitfüße vor die Tür gesetzt, hätte er gewusst, dass ihn der Schlamassel mit dem Ring nicht nur nach »draußen« bringt, sondern zu einem feuerspuckenden Vulkan in Mordor.

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Man wird ja alt. Die Nächte werden kürzer, die Partys kleiner, die Drinks schwächer, die Menschen gemütlicher. Auch ich. Manchmal bestelle ich mir Essen und würde gern nicht nur dem Lieferanten, sondern auch mir ein kleines Trinkgeld geben, weil ich ihm im Treppenhaus auf halber Strecke entgegenkomme. Das sind die Augenblicke, in denen das Handy klingelt. »Was machst du?«, fragt C. dann, und weil sie weiß, dass nur eine Ausrede kommt, überspringt sie meine Antwort gleich.

Ein typischer Abend mit C. läuft so: Wir gehen etwas essen, wechseln in eine Bar oder auf eine Party, wo wir einen Freund oder Fremden treffen, der entweder Tangolehrer oder DJ ist, und landen dann in einem rustikalen Tangosaal oder einem Underground-Techno-Schuppen. Varia­tionen sind möglich. Ich bin froh, eine Freundin zu haben, die mich aus der Gemütlichkeit zieht. Aber manchmal, wenn ich schon im Pyjama bin, frage ich mich, warum ich mir das antue. Manche mögen das »fear of missing out« nennen, die Angst, etwas zu verpassen. Aber es ist anders. Weder planen noch erwarten C. und ich, dass etwas passiert. Wir sitzen einfach da mit einem Glas Wein und warten, dass das Universum sein schmutziges Werk tut. Oder auch nicht. Wer weiß? Ein Ninja schlägt ja auch erst zu, wenn man es nicht erwartet. Und wenn sich eine Chance auftut, stehen wir jedes Mal vor der Entscheidung: Lassen wir uns drauf ein? Auch wenn es ungemütlich ist, sage ich gern zu. Denn jedes Ja wird vielleicht zu einer Erinnerung.