Immer, wenn ich zu meinem Sohn Sachen sage wie »Der alte Mann eben an der Kreuzung hat nur deshalb so aggressiv auf dich und deine Kumpels reagiert, weil ihr jung seid und ihn damit auf seine eigene Vergänglichkeit oder vielleicht auch nur auf seinen Bedeutungsverlust hinweist«, denke ich eine Sekunde später: um Himmels Willen, Simone, lass die Teenager in Ruhe, die sollen einfach nur laute Musik hören. Dann schicke ich die Teenager ins Zimmer meines Sohnes, damit sie laute Musik hören, und denke eine Sekunde später: Verdammt, du bist eine schlechte Mutter, enthalte ihnen doch bitte die Bildungsbürgerinnengedanken nicht vor, nur weil sie noch ein bisschen klein sind.
Der Ausweg aus diesem Dilemma ist für mich meistens Popkultur, einfach rein damit in die Kinderhirne, egal was, irgendwas Interessantes wird schon hängen bleiben.
»Kommt«, sage ich also, »macht die laute Musik wieder aus, wir schauen uns jetzt einen Filmklassiker meiner Jugend an.« Irritation in den Teenagergesichtern. Aber weil sie das ja gewohnt sind, lassen sie sich üblicherweise, wenn auch kopfschüttelnd, darauf ein.
So kam es, dass mein Sohn und ich neulich schon am Nachmittag auf der Couch saßen, während im Heimkino Pulp Fiction lief. Weil ich glaube, dass man empfindsame Gehirne vorsichtig füttern muss, ob mit Geschichten über rassistische Strukturen oder mit gerissenen Zeitlinien in einer Erzählung, präsentierte ich den Reißer Pulp Fiction genauso, wie ich zu Beginn der Pandemie Raoul Pecks fantastische Doku zu James Baldwins Zitat I Am Not Your Negro servierte – in Stücken. Zwischendrin einfach mal kurz Pause machen und reden. Mein Sohn ist auch das gewohnt, und es kommt ursprünglich sogar von ihm. Er will Filmemacher werden, und die Pausen zum Besprechen komplexer Szenen hat er schon bei Feuerwehrmann Sam etabliert. Sein Fazit zu Pulp Fiction fiel aus wie das vieler anderer Menschen auch: »Fünf Dollar für einen Milchshake? Das ist viel, oder?«
Er ist wie jeder ernstzunehmende Teenager Milchshake-Spezialist, er trinkt das Zeug quasi wöchentlich, und in der Eisdiele bei uns an der Ecke kostet so ein Ding um die vier Euro. Damals in den Neunzigern«, sagte ich, »hieß das noch D-Mark, und in Mark waren es ungefähr acht.« »Welche Art von Milchshake kostet bitte ACHT?«
»Das frage ich mich, seit ich den Film vor fast dreißig Jahren gesehen habe«, sagte ich, und wir beschlossen, dass diese Frage jetzt endlich mal beantwortet werden musste: Wie gut ist der Shake wirklich? Ich holte den Mixer aus dem Küchenschrank und das Rezept für »Martin & Lewis Milchshake« aus dem Internet (250 g gutes Vanille-Eis, 250 ml Milch, Vanillemark, Schlagsahne für obendrauf und jeweils eine Cocktailkirsche für die Optik), der Mixer tat sein Werk, und na ja, was soll ich sagen?
Mein Sohn zog den »Martin & Lewis« durch seinen Strohhalm wie damals John Travolta. »Wow«, sagte er. »Das ist ein verdammt guter Milchshake.« – »Irgendwann«, sagte ich, »möglicherweise auch nie, werde ich dich bitten, mir dafür eine kleine Gefälligkeit zu erweisen. Aber solange ich das nicht tue, soll die Gerechtigkeit mein Geschenk an dich sein, zum Hochzeitstag meiner Tochter.« – »Mama?«
»Entschuldige«, sagte ich. »Pulp Fiction, Der Pate, bei mir geht da inzwischen manchmal so einiges durcheinander im Kopf, es ist alles ein bisschen viel gerade.« Er sah mich an, trank seinen Milchshake und dachte nach.