Als mein Sohn geboren wurde, hat mein Vater eine Flasche Riesling gekauft und im Keller eingelagert, damit sein erstes Enkelkind sie irgendwann trinken kann. Ich habe schon einige Geschichten von Getränken gehört, die für besondere Anlässe aufgehoben werden. Freunde, die Häuser bauten, haben Champagnerflaschen für die Nachwelt eingemauert. Von einer Familie aus Ostberlin weiß ich, dass ihr Großvater am Tag des Mauerbaus eine Flasche Cognac in den Tresor legte und sagte: Die öffnen wir, wenn die Mauer weg ist. Aber der Gedanke an die Weinflasche im Keller meines Vaters rührt mich besonders. Seit fast 15 Jahren, so alt ist mein Sohn jetzt, liegt sie da, ein Stück konservierte Zeit.
Wer Kinder hat, hört vom Tag ihrer Geburt an diesen Satz: Die Zeit vergeht ja so schnell. Wenn die Kinder klein sind, nervt das, denn die Zeit vergeht überhaupt nicht schnell. Sie scheint sich sogar zu dehnen zwischen Stillen, durchwachten Nächten und den wenigen Aktivitäten, die mit einem Baby möglich sind. Die Zeit scheint auch noch unendlich zu sein, wenn die Kinder in die Kita kommen, Freundschaften knüpfen oder zum ersten Mal ohne Eltern verreisen. Vielleicht ist das so, weil man die Kinder die meiste Zeit um sich hat. Oder weil sich die Tage mit Kindern oft ähneln und man nicht mitbekommt, wie sie größer werden. Jedenfalls hat man das Gefühl, mit der Geburt von Kindern ein volles Zeitkonto zu bekommen, das sich immer weiter verzinst.
Bis man plötzlich merkt: Die Leute hatten recht. Die Zeit ist einem durch die Finger geronnen. Und irgendwann ist es wie in dem Film Boyhood, für den der Regisseur Richard Linklater einen Jungen vom Schulbeginn bis zum Studium begleitet hat. Der Film ist eine Geschichte des Erwachsenwerdens, alle Protagonisten altern in Echtzeit, was für eine geniale Idee. Besonders bewegt hat mich die Szene, als der Junge von zu Hause auszieht. Er läuft durch die Wohnung, um seine Sachen zusammenzusuchen, während seine Mutter auf die gepackten Kisten guckt. In ihrem Blick spiegelt sich die ganze Melancholie dieses Moments, die Freude über ihren großen Sohn, aber auch die Erkenntnis, dass etwas nun für immer vorbei ist.
So ähnlich geht es mir, wenn ich an die Flasche Wein im Keller denke. Sie macht mir klar, dass von der Zeit mit den Kindern, die unendlich schien, irgendwann nur noch Erinnerungen übrig sein werden. Aber mir gefällt die Idee von Zukunft, die mit dieser Flasche verbunden ist. Sie wurde ja deswegen gekauft, weil jemand bei der Geburt eines Babys schon den jungen Mann vor Augen hatte, der den Wein eines Tages trinken würde.
Mein Vater fragt sich, was er mit der Flasche machen soll. Soll er sie seinem Enkel irgendwann feierlich überreichen? Oder öffnet er sie schon an seinem 15. Geburtstag, und der Junge bekommt ein paar Tröpfchen, als Ritual des beginnenden Erwachsenseins
gewissermaßen? Oder trinken wir sie alle zusammen, so wie sich Eltern beim Geburtstag ihrer Kinder immer auch ein bisschen selbst feiern? Es sind schmerzhafte Fragen, für Großeltern ist die vergangene Zeit mit Kindern in ihrer Unwiederbringlichkeit ja noch brutaler. Mein Vater ist dann in den Keller gegangen, hat sich die Flasche angeschaut und beschlossen, dass der Wein noch eine Weile dort bleiben soll. Um weiter zu reifen, so wie sein Enkel.