Beinfreiheit

In einem Seminar mit lauter gehbehinderten Patienten lässt die Leiterin demonstrativ ihre Beine baumeln. Eine Frechheit, findet unsere Leserin. Doch ist dieses Verhalten wirklich so unsensibel?

Illustration: Serge Bloch

»Zurzeit bin ich in einer Reha für Orthopädie. Dort werden auch Seminare abgehalten. Die Seminarleiterin für Psychologie ist eine junge Frau. Sie setzt sich vor den sechs Reihen Krückenbewehrter auf einen Tisch und lässt ihre Beine aus­giebig über dem Boden baumeln. Ununterbrochen. Mich nervt das so, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Abgesehen davon finde ich es unpassend, den gehbehinderten Patienten die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit ihrer Beine vorzu­führen. Als Psychologin! Ich bin zu feige, mein Unwohlsein zu kommunizieren. Muss man das aushalten?« Anonym, per Mail

Kennen Sie das Buch Ich bin dann mal weg von Hape Kerkeling? Er beschreibt darin seine Erlebnisse während einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela, die er Anfang des Jahrtausends alleine unternahm. Unterwegs begegneten ihm natürlich andere Pilger, offenbar schließt man sich beim Pilgern oft zu kleineren Gruppen zusammen, lernt jedenfalls laufend (im wahrsten Sinne des Wortes) lauter neue Leute kennen – und nicht alle mag man. Während seiner Reise erkennt Hape Kerkeling schließlich, dass es gerade die Menschen sind, die er auf Anhieb am wenigsten mag, die er mitunter sogar hasst, von denen er am meisten lernen kann. Denn es hat immer etwas mit einem selbst zu tun, auf was man bei anderen übertrieben heftig reagiert.

Es läge mir fern, Sie analysieren zu wollen, aber vielleicht wäre es interessant für Sie herauszufinden, warum Sie das Füßebaumeln dieser Frau derart reizt. Sie unterstellen Absicht, glauben, die Frau wolle den Kursteilnehmern damit deren momentane Behinderung vor Augen führen. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, möchte ich darauf hinweisen, dass dies keineswegs so sein muss. Es ist Ihre Interpretation. Offen gesagt, erscheint es sogar unwahrscheinlich, dass hier in grausam schadenfroher Absicht mit Füßen gebaumelt wird. Und selbst wenn.

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Meditierende sollen Außengeräusche nicht als Störung wahrnehmen, sondern sie möglichst nicht bewerten. Geht also, während man gerade mit geschlossenen Augen im Schneidersitz sitzt, nebenan ein Presslufthammer los, wäre das Ziel, sich davon nicht aus der inneren Ruhe bringen zu lassen, sondern schlicht wahrzunehmen, was ist. Dazu kann auch gehören, dass der eigene Puls schneller geht. Mein Vorschlag wäre, das, was Sie so stört, zu umarmen. Freuen Sie sich schon darauf, was gleich passiert, wenn sich die Frau auf den Tisch setzt. ­Sehen Sie in ihrem Füßebaumeln eine Möglichkeit zu wachsen.