Unter anderen Umständen

Im Zug besteht eine schwangere Mitreisende darauf, ihre Füße auf den letzten freien Sitzplatz zu legen. Unser Leser fragt sich, ob sie damit ihr ungeborenes Kind instrumentalisiert hat. 

Illustration: Serge Bloch

»Kürzlich im überfüllten ICE von Erfurt nach München: sämtliche Sitzplätze belegt, Passagiere sitzen auf dem Boden. Eine Dame in deutlich fortgeschrittener Schwangerschaft beansprucht den einzig freien Platz, um ihre Füße hochzulegen. Auf Bitten, mir (männlich, 71 Jahre) den nicht gebuchten Platz freizugeben, behauptet sie, das müsse bei ihr so sein, andernfalls müsse sie auf dem Boden sitzen. Darf ich diese Einstellung (sofern keine eindeutige Indikation vorliegt) so interpretieren, dass ein noch ungeborenes Kind instrumentalisiert wird ­zugunsten eines egoistischen Privilegs?« Stephan F., Obergünzburg

Ach, waren Sie auch in diesem überfüllten ICE? Kleiner Witz. Wir alle haben in letzter Zeit so eine oder eine ähnliche Geschichte in der Deutschen Bahn erlebt. Bei mir forderte kürzlich eine neu zugestiegene Frau lautstark einen Sitzplatz in Fahrtrichtung, obwohl sie keine Reservierung hatte. Ihre Begründung war zugleich eine Drohung: »Sonst spei ich hier alles voll.« Tatsächlich war eine Dame so reizend, ihr ihren Sitzplatz zu überlassen. Hätte ich nie gemacht.

In Ihrem Fall, so wie von Ihnen geschildert, wird Ihnen jeder beipflichten, dass die ­Sache von der Schwangeren nicht glücklich gelöst worden ist. Wobei ich Ihrer begreiflichen Wut ein bisschen die Härte nehmen wollen würde: Möglicherweise wurde hier nichts instrumentalisiert, sondern einfach dem Umstand Rechnung getragen, dass eine fortgeschrittene Schwangerschaft zu Beschwerden führen kann. Ich habe die Berliner Frauenärztin Uta Pätzig gefragt, ­ob Füße hochlegen aus medizinischer Sicht geboten sein kann. Sie sagt, im letzten Trimenon – den letzten drei Schwangerschaftsmonaten – neigten viele Schwangere zu sogenannten Schwangerschaftsödemen, bekämen vor allem geschwollene Unterschenkel und Beine. »Denen empfiehlt man tatsächlich, so oft wie möglich die Beine hoch­zulegen.« Eine Indikation, die es ­erfordere, dies auch in öffentlichen Verkehrsmitteln zu tun, gebe es aber nicht. Be­troffene sind also auf die Kulanz der Mitreisenden angewiesen. Beziehungsweise auf die Umstände der Umstehenden, mit denen sie es in ihren anderen Umständen zu tun haben.

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Und hier kommen Sie ins Spiel. Und der Umstand, dass es bereits mehr als siebzig Jahre her ist, dass Ihre Mutter mit Ihnen in anderen Umständen war. Einigen wir uns doch darauf, dass in diesem Fall die Deutsche Bahn schuld war. Hätte die ihre Organisation besser im Griff, hätten Sie beide bestimmt eine angenehme Reise gehabt.