Das Internet erinnert an einen gigantischen Termitenhügel. Termiten sind leistungsfähig und effizient; intelligent sind sie nicht. Sie können nicht planen oder befehlen, haben keine Architekten oder Kommandeure. Da sie jedoch in riesiger Zahl zusammenarbeiten, können sie die Landschaft umgestalten.
Auch das Internet wird durch Prozesse geprägt, wie Termiten sie ausführen: Sie folgen keinem geplanten Muster und erzielen nur dadurch Effekte, dass viele Einzelne dasselbe zur selben Zeit tun. Suchmaschinen etwa basieren auf Algorithmen. Diese mathematischen Formeln entfalten jedoch ihre Wirkung erst, wenn Menschen aktiv werden: Nur wenn wir Webseiten lesen, miteinander verlinken und beliebte Suchbegriffe hervorheben, tauchen diese Seiten oben auf den Trefferlisten auf. Auch die Kulturindustrie findet sich auf einmal im Termiten-hügel wieder: Weltweit weisen Internetnutzer einander auf Nachrichten, Fotos, Videos und Musik hin, laden sie herunter und stellen neue Zusammenhänge her. Es sind nicht mehr die Verleger, Redakteure und Kritiker, die entscheiden, was wir sehen, hören und lesen – eine anonyme Masse bestimmt, was in der Informationsflut nach oben gespült wird. Auch die Programmierer von YouTube können nicht vorhersagen, welches YouTube-Video ein großer Hit wird.
Nichts verdeutlicht das System Termitenhügel besser als die Finanzkrise: Wir haben den Glaubenssatz verinnerlicht, dass ein freier Markt besser funktioniere als einer, der von Regierungen zentral geplant wird. Wenn Käufe und Verkäufe unkoordiniert vonstattengehen, sorge die »unsichtbare Hand des Marktes« für Wohlstand und Wachstum. Die Finanzkrise aber hat diese Annahme Lügen gestraft – und das Internet trägt eine Mitschuld daran: Weil Informationen rasend schnell ausgetauscht werden und weil jeder als isoliertes Individuum auf sie reagiert, konnte die Finanzkrise überhaupt diese Ausmaße annehmen.
Das elektronische Finanzwesen kombiniert die Geschwindigkeit des Internets mit der Irrationalität der Investoren. Die »unsichtbare Hand« wird nicht durch ein Hirn gesteuert: Unser heutiges Finanzsystem ist mitunter effizient, über Verstand verfügt es nicht. Trotzdem kann es unser
Leben über Nacht verändern.
Durch diese unkoordinierten, aber in ungeheurer Zahl stattfindenden Prozesse entwickelt sich eine neue Dynamik, die unser Leben zunehmend bestimmt. Indem wir uns auf das Internet verlassen, haben wir die menschliche Kontrolle durch eine mächtige Mischung aus Algorithmen und Nutzer-Communitys ersetzt. Wenn wir Menschen behaupten, wir seien immer noch die Herren des Geschehens, so ist dies eindeutig falsch.
Wir haben also eine Art künstlichen Lebens geschaffen, aber keine künstliche Intelligenz. Wäre das Internet ein intelligentes »Weltgehirn«, so hätte dieses Hirn irgendeine Art von Agenda. Wir könnten mit ihm verhandeln, es versöhnlich stimmen oder angreifen. Die Situation, die wir tatsächlich geschaffen haben, gleicht jedoch einem »Welt-Termitenhügel«, und wir leben in seiner Mitte.
Können wir uns davon emanzipieren? Keine plausiblen Pläne existieren, wie dieses System zu regulieren sei. Wir verfügen nicht über Institutionen, mittels derer wir die Kontrolle wieder übernehmen könnten. Jeder Ansatz, das Internet zu regulieren, würde logischerweise im Internet selbst beginnen. Wir würden versuchen, unsere Ohnmacht und Wut durch Beteiligung zu lindern – wie bei jeder modernen politischen Kampagne, die Aktivisten um Obama haben es vorgemacht.
Wir würden mit Mitstreitern in Wikis diskutieren, Metadaten sammeln und auswerten, Informationen aus der Blogosphäre ernten, »Häufige Fragen«-Listen erstellen, Werkzeuge zur Textanalyse programmieren und so weiter.
Wir sind mit unserem schönen Termitenhügel inzwischen viel zu sehr verwachsen, um ihn niederreißen oder verlassen zu können. Gute Ideen entwickeln wir nur noch innerhalb dieses Systems; ohne Internet können wir nicht mehr effektiv denken oder unsere Ideen austauschen. Das System Termitenhügel ist ein Fakt. Es hat Macht. Es schert sich nicht um uns. Wir können es nicht loswerden.
Und das wollen wir auch gar nicht: Schließlich arbeiten wir jeden Tag hart daran, es größer, schneller und leistungsfähiger zu machen.
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Illustration: Christoph Niemann